Ankunft

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Stille. Nichts als Stille; jeden Tag. Langsam erhebe ich mich aus meinem Bett und betrachte mein gespiegeltes Ich im Fenster. Richtige Spiegel gibt es hier nicht. Man könnte diese ja zerschlagen und mit den Scherben sich oder Andere verletzen. Mit "hier" meine ich das "White Rose", die psychiatrische Anstalt,  die ich mein Zuhause nenne. Seit einem Jahr und vier Monaten bin ich nun hier. Mit 17 wies man mich ein. Mittlerweile bin ich 19 und könnte mich selbst entlassen. Aber wozu denn? Da draußen habe ich sowieso niemanden und hier drin ist es gar nicht so übel. Mein Tag besteht aus Frühstück, Gruppentherapie, Mittag essen, Freizeit, Abend essen und dann Schlafenszeit. Jeden Tag dasselbe, bis auf Freitags, da habe ich Einzeltherapie. Hört sich alles beschissener an als es ist. Heute ist sogar Freitag, also habe ich nachher Einzel. Ich greife mir ein T-Shirt und eine Jeans, ziehe diese über und begebe mich in den Speisesaal. Das Frühstücksbüfett ist nicht gerade üppig, aber mir reicht es komplett. Auf mein Tablett lege ich einen Apfel, eine Banane und einen Joghurt. Dann setze ich mich an den Tisch zu Mona und Ben. Ben ist magersüchtig und wird zur Zeit mit Kohlenhydraten gefüttert, weshalb auf seinem Tablett auch ein riesiger Haufen an Essen liegt, welches er nur gezwungenermaßen zu sich nimmt. Mona ist depressiv und man fand sie mit Schlaftabletten im Wohnzimmer. Trotzdem mag ich die Zwei, sie sind noch mit die Normalsten hier. Außerdem akzeptieren sie, dass ich nicht rede. Das ist keine Untertreibung, ich rede wirklich nie. Mit niemandem. Seit über zwei Jahren ist kein Wort mehr aus meinem Mund gekommen; ich habe sogar vergessen, wie meine Stimme klingt. Das ist auch der Grund, wieso man mich in diese Anstalt gesteckt hat. Es hat seine Gründe, weshalb ich nicht rede, aber die weiß niemand. Zurück zu Mona und Ben, die mich mit einem "Hallo" begrüßen. Ich schenke ihnen ein Lächeln und höre zu, wie Mona von ihrem scheiß Leben berichtet und Ben sich über sein nicht vorhandenes Fett beklagt. Derweil esse ich mein Frühstück und versuche, nicht allzu trostlos auszusehen. Ich muss für Außenstehende aussehen wie der reinste Alptraum. Haare ungebürstet, nicht geschminkt und auf meinem T-Shirt sind auch ein paar Flecken. Aber was macht das schon? Hier gibt es niemanden, den es auch nur ansatzweise interessiert, wie ich aussehe. Ich räume mein leeres Tablett weg und winke Ben und Mona zum Abschied zu.  Mein Zimmer ist nicht gerade ein Palast, es ist genau Platz für ein Bett an der Wand, einen Kleiderschrank, eine kleine Kommode neben meinem Bett, in dem ich meine ganzen Zeichen Sachen aufbewahre, und einer Tür zum Badezimmer. Mein Badezimmer ist winzig, aber immerhin habe ich mein eigenes. Im Badezimmer putze ich mir schnell meine Zähne und gehe mit der Bürste eben durch meine Haare. Mit einem Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass wir bereits 11:56 haben. Schnell laufe ich aus meinem Zimmer und mache mich auf den Weg zum Therapie-Raum. Wenn man hier zu spät oder auch gar nicht zu einer Therapie kommt, gibt es großen Ärger, den ich mir gerne ersparen würde. Ich haste die Treppen hoch und stehe genau um 11:59 vor der Tür. "Emilia, komm doch rein", ruft mich meine Therapeutin. Ihr Name ist Gloria Preston und ich mag sie. Anfangs hatte sie noch versucht ein Wort aus mir zu bekommen, aber mittlerweile hat sie aufgegeben, da es sowieso nicht klappt. Ich schweige. Lächelnd setze ich mich auf den Sessel und sehe Dr.Preston ins Gesicht. "Nun Emilia, das wird dich sicherlich nicht erfreuen, aber man hat entschieden, dir einen Pfleger zuzuteilen." Ich sehe sie fragend an. Einen Pfleger? Wozu? Ich mache nie Probleme und kann auch alleine essen und laufen. Preston seufzt: "Tut mir leid, Anordnung  von oben. Er ist 23 und soll dafür sorgen, dass du dich am Sozialleben beteiligst und anfängst zu reden, da ich das ja einfach nicht schaffe. Deswegen ist unsere Stunde heute auch gestrichen, du sollst auf dein Zimmer und dort auf ihn warten, er sollte gleich zu dir stoßen." Sie rafft ein paar Papiere zusammen und steht dann auf. "Wenn du dann jetzt gehen würdest, draußen warten Patienten auf mich", gibt sie müde von sich. Langsam erhebe ich mich und gehe leicht verwirrt auf mein Zimmer. Was soll das? Ich brauche keinen privaten Babysitter. Ich komme auch gut ohne zurecht. Leicht säuerlich schmeiße ich meine Tür auf und lasse mich auf mein Bett fallen. Wieso behandeln die mich wie einen Pflegefall? Grübelnd lehne ich mich an die kühle Zimmerwand und warte.  



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