Erinnerungen

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Das Leben ist an sich eine einfache Angelegenheit. Wir werden geboren, wir leben, wir sterben. Die Natur ist geprägt von festen Abläufen, die sich ständig wiederholen. So graut jeden Tag ein neuer Morgen an, die Sonne steigt und sinkt auf ihrer Himmelsbahn, um am Abend unterzugehen und Platz zu schaffen für den Mond und die Sterne. Jedes Jahr halten Frühling, Sommer, Herbst und Winter Einzug, und die Erde dreht sich beständig weiter. Das Wetter, die Tiere und die Natur halten Spektakel aber wenig Überraschungen bereit. Ein Wolf wird niemals versuchen, dass fliegen zu erlernen, und ein Huhn wird nie in die Weiten des Meeres hinausschwimmen. Erst die Menschen machen das Leben kompliziert. Kultur, Politik, Liebe und Religion, all das ist so undurchschaubar. Ein Konstrukt, in dem ich mich verheddert habe, das droht mich nicht mehr freizugeben und mir die Luft abzuschnüren. Und ich erinnere mich an alles in einem einzigen Augenblick, der so schnell vorüber ist wie der Flügelschlag eines Vogels, während ich auf dieser Klippe sitze, und in die Weiten des Nichts starre.

Ich erinnere mich an Moos unter meinen nackten Füßen. Ich sog den Duft von klammer Baumrinde ein, während ich mich so klein wie möglich zwischen den Wurzeln einer großen Eiche machte. Ihre Schritte auf dem Laub und ihre Stimme verrieten sie.

„Wo ist mein Mädchen?", tönte ihre glockenhelle Stimme durch den Wald und ich unterdrückte ein Kichern, denn mein Versteck war gut gewählt, und ich war nicht bereit es zu verlassen. Die Schritte kamen näher und hielten schließlich inne. „Meine Kleine, ich finde dich..." Meine Augen riskierten einen flüchtigen Blick, doch meine Mutter stand mit dem Rücken zu mir. Sie sah mich nicht und erleichtert kauerte ich mich zurück in mein Versteck. „Komm raus, komm raus, wo immer du bist!", erhob sich ihre Stimme und ich bedeckte mit beiden Händen meinen Mund, um sicherzustellen, dass kein Mucks meinem Körper entwich. Ich war so vergnügt, dass es mir schwer fiel ein Kichern zu unterdrücken. „Ich finde dich", sagte meine Mutter und ich hörte, wie sich ihre Stimme wieder entfernte. Horchend vergrub ich meine Zehen im Moos und beschloss einen weiteren Blick zu riskieren. Erschrocken stellte ich fest, dass sie fort war. „Hab dich!", ertönte es hinter mir und jemand hob mich in den Achseln nach oben. Ich stieß ein erschrockenes Quietschen aus und wurde durch die Luft gewirbelt. Das grüne Kleid, das ich trug, bauschte sich auf, und meine Mutter begann mich zu kitzeln. Ich lachte so laut, dass die Vögel in den Bäumen sich aus den Wipfeln erhoben. Sie hielt mich in ihren Armen und ich sah in ihr Gesicht. Die damals noch hellblonden Haare fielen ihr in sanften Wellen über die Schultern und ich ergriff eine Locke, um sie um meinen Finger zu zwirbeln. Eine schöne Frau mit wasserblauen Augen und einem großen Herzen. Sie trug mich mit Leichtigkeit im Arm zu einer Lichtung auf der mein Vater mit meinen Geschwistern saß. Ich winkte ihm schon von weitem zu und er erwiderte die Geste. Während mein kleiner Bruder Carver sich mit seinen Babyhänden in seinem schwarzen Bart festkrallte.

„Carver, lass los!", flehte er und meine Mutter kam ihm lächelnd zu Hilfe, während ich meine kleine Schwester Bethany auf den Schoß nahm. Ihr Körper war so zart und klein, dass ich manchmal Angst hatte ihn zu zerbrechen. Eine frische Brise wehte über die Wiese und wirbelte die Samenkapseln von Pusteblumen auf. Eine der Kapseln blieb in meinen Haaren hängen und Bethany versuchte sie umständlich mit ihren Fingerchen zu greifen. Inzwischen hatte meine Mutter Carvers Hände aus dem Bart meines Vaters befreit, der ihm aus seinen dunkelbraunen Augen vorwurfsvolle Blicke zuwarf. Dankbar gab er meiner Mutter einen Kuss auf die Wange, diese lächelte mit geschlossenen Augen und betrachtete dann ihren Sohn, der unglaublich groß für ein Baby seines Alters war. Mein Vater ließ sich seufzend in die Wiese fallen und streckte seine langen Beine aus. Er faltete die Hände hinter dem Hinterkopf zusammen und schielte dann zu mir herüber. „Wie gut hattest du dich diesmal versteckt?", fragte er schelmisch.

„Besser als letztes Mal", sagte ich ausweichend.

„Aber immer noch nicht gut genug", lachte meine Mutter.

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