Vor den Problemen wegrennen

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Lauras POV

Es wird langsam kälter, ich zittere am ganzen Körper. Die Sonne ist bereits untergegangen, die warmen Kaufhäuser haben Ladenschluss. Mein Pullover ist dünn und der Wind bringt mich zum Frösteln, normalerweise ist es noch wärmer im September. Ich hätte den Winter über noch daheim bleiben sollen, aber ich konnte nicht mehr. Meinen Eltern bin ich vollkommen egal, für sie ist nur mein zwei Jahre jüngerer Bruder wichtig, der den ganzen Tag nur am PC ist und spielt. Sie loben immer nur ihn, wenn er etwas gut gemacht hat, wie zum Beispiel eine eins in der letzten Klausur bekommen hat, bei mir heißt es immer nur: "Schön für dich." Eine Träne läuft mir die Wange hinunter, ich habe keine Kraft mehr. Vor den Sommerferien habe ich auch meine "Freunde" verloren, sie haben mir ihre gemeine, hinterhältige Seite gezeigt. Sie finden es nämlich extrem lustig mich im Internet zu mobben, habe ich nicht schon genug gelitten? In der siebten und achten Klasse wurde ich schon gemobbt, ich bin kurz davor gewesen mich umzubringen. Und an diesen Punkt stehe ich nun wieder, ohne Freunde, ohne eine Menschenseele, der ich vertrauen kann. Alle hassen mich, das Leben hasst mich. Der Wind gelangt durch die Löcher meiner abgenutzten Hose an meine Knie, sie sind leicht gerötet, genau wie meine Wangen. Ich trage nun schon seit zwei Wochen, also seit dem Tag, an dem ich abgehauen bin, die gleichen Klamotten und ich rieche auch schon sehr stark. Ich bin am ersten Schultag, als ich in die elfte Klasse gekommen wäre, mit den 100 Euro, die mir meine Mutter für eine Monatskarte gegeben hat, abgehauen. Ich bin wie gewohnt zu meiner Schule gefahren, bin dann aber zum Bahnhof gelaufen und bin nach einigen Stunden mit Umstiegen in Köln gelandet. Mein Geld habe ich schon vor drei Tagen aufgebraucht, ich bin am Verhungern. Mein Magen meldet sich wieder, es tut so weh. Manchmal bereue ich es weggelaufen zu sein, aber es war die richtige Entscheidung. Ich müsste nur etwas Geld auftreiben, mir einen Job suchen und dann eine Wohnung, ich werde das schon irgendwie hinbekommen. Irgendwie.

Ich streife ein wenig an den Bars vorbei und hoffe, dass ich in den Mülleimern noch etwas essbares finde, aber ich bin hier nicht die einzige Obdachlose. Viele ältere Männer liegen am Straßenrand mit Bierflaschen, ich will nicht so enden, aber werde es wahrscheinlich. In meiner Hand halte ich eine leere Keramiktasse, einige Münzen sind darin, denn die Leute haben Mitleid mit mir. Keine Ahnung, was sie denken, aber würden sie wissen, dass ich "nur" von zuhause abgehauen bin, würden sie die Polizei rufen und mich zurückbringen lassen. Und das möchte ich nicht, ich möchte unter keinen Umständen zurück. Eher will ich tot sein.

Mir kommt auf einmal ein Gedanke, ich habe ja noch mein Handy. Ich ziehe es blitzschnell aus meiner Hosentasche, der Akku ist schon am zweiten Tag leer gewesen, aber darum ging es mir nicht. Es ist ein HTC One M8, also ein relativ neues und teures Modell, ich kann einige hundert Euro dafür bekommen und genau das ist es, was ich vorhabe. Es zu verkaufen, denn ohne Akku bringt es mir nichts. Ich blicke um mich und erkenne an der nächsten Ecke schon den ersten 24h geöffneten An- und Verkaufhändler, fast schon rennend gehe ich dort hin mit einem Lächeln im Gesicht. Wieso bin ich nicht eher schon darauf gekommen, ich habe eine Chance. 300 Euro wird mir der Händler sicher geben, ich würde damit auf jeden Fall noch länger durchhalten. Zuerst werde ich mir eine Jacke kaufen aus einem Secondhandladen, weil ich wirklich sehr friere, ich vermute, es hat um die 10 Grad Celsius, aber genau weiß ich es nicht.

Ich habe die Ladentür schon fast erreicht, als mir jemand mein Handy aus meiner halbgefrorenen Hand riss. "Hey!", schreie ich und drehe mich zu der Person, es ist ein Mann mit dunkelbraunen Haaren, soweit ich das im Schein der Laternen erkennen kann. Aber was ich erkennen kann, ist, dass er mehr als zwei Köpfe größer ist als ich und mich grimmig anblickt. "Hmm, danke, das bringt einige Euro", sagt er mit einer tiefen, düsteren und leicht verspottenden Stimme, verzweifelt versuche ich es ihm zu entreißen. "Nana, kleines Mädchen, was macht so ein junges Ding überhaupt noch so spät hier?", fragt er dann und hält das Handy nach oben, damit ich es nicht erreichen kann, er grinst gemein. "Was sollte dich das denn angehen?", antworte ich schwach, obwohl ich versuche stark und taff zu klingen. "Nicht so frech, Miss. Wie wär's mit einem Deal? Du bekommst dein Handy wieder, wenn du es mir besorgst." Ich werde mich niemals für Geld verkaufen, dafür habe ich zu viel Stolz, ich versuche weiterhin mein Smartphone zurückzubekommen, aber es gelingt mir nicht. Erst jetzt bemerke ich den Geruch von Alkohol, der Mann ist angetrunken, das kann nicht gut enden. Er packt mich nun an meiner zarten und gebrechlichen Schulter und schmeißt mich auf das harte Pflaster. Ich beiße mir auf die Lippe um nicht aufzuschreien, weil es weh tat, aber er ist noch nicht fertig mit mir. Er beugt sich zu mir runter und hebt mich am meinen Kragen in die Luft, es schneidet mir die Luft ab und ich fange an zu keuchen, er grinst böse. Er klatscht mir eine, erst die rechte Wange, dann die linke, dann wieder die rechte, es schmerzt so sehr und ich muss mich richtig darum bemühen nicht aufzuschreien. "Bring mich doch gleich um...", entflieht mir aus meinen zusammengepressten Lippen, er zieht die Augenbraue hoch. "Aber gerne doch! Und hör auf zu schreien!" Ich schließe die Augen und er gibt mir einen Kinnhaken, sodass ich einen Meter weiter mit den Rücken auf den Boden lande. Ich spüre schon, wie ich schwächer werde, ich schaffe es nicht mehr gerade zu stehen, als ich mich wieder aufgerappelt habe. Er nimmt mich an der Schulter, die Faust geballt, er will zuschlagen.

Why I got you on my mind? Abgeschlossen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt