Wieso sollten sie uns anlügen?

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Ich starrte ihn für ein paar sekunden ungläubig an. Er war geflohen??

''Wovor kann denn ein Shim aus Relev weglaufen?'', fragte ich verwirrt. Wenn er gesagt hätte, er käme von Keleigh und wäre nur zu Besuch hier, ich wäre nicht erstaunter gewesen.

''Was weißt du über die drei großen Königreiche??'', fragte er mich.

''Ihr lebt in Reichtum, Überfluss. Kein Shim in Dilah, nicht einmal der reichste, hat so viele Dar wie der Ärmste in Relev. Kein Kind in Dilah ist so glücklich wie alle Shim in den großen Königreichen. In Barih ist alles aus Bronze. Von den Straßen über die Gebäude bis zu den Kinderspielzeugen. Die Waffen sind aus den Stärksten Materialien, die es gibt. In Trinoa ist alles aus purem Gold. Sogar die kleinsten Instrumente sind aus Gold. Und in Relev ist alles aus Silber. Das feine, glänzende Silber, nicht das matte, grobe das wir in Dilah haben. Die Kleider sind mit Silberfäden durchzogen und in die Haare werden Silberne Schmuckklammern gesteckt. Niemand muss Hunger leiden und niemand ist arm. Nein, wer in den großen Königreichen lebt dankt täglich Gott dafür!'', meinte ich.

''Das ist das, was sie euch schon als Kleinkinder beibringen, nicht wahr??'', fragte Adam spöttisch.

''Das ist – nur mal so nebenbei – nichts als die pure Wahrheit! Wieso sollten sie uns anlügen??'', behauptete ich störrisch.

''Das ist ein – wie ich sagen muss – sehr kleiner Teil der Wahrheit. Haben sie euch auch von dem Leid erzählt?? Von den bettelnden Kindern? Von den mittellosen Müttern, die nur noch Haut und Knochen sind, damit ihre Kinder essen können? Von den Soldaten, die durch die Straßen ziehen und den Bettlern das Dar aus den Bettelschüsseln nehmen?? Von den harten Bestrafungen, die Dieberei mit sich ziehen?? Von den härteren Bestrafungen, die eine Flucht verlangen?? Euch wurde nur beigebracht, was euch neidisch macht. Was euch das 'anders sein' verfluchen lässt. Es gibt vieles, was einen flüchten lassen kann, selbst in den großen Königreichen!'', beteuerte er.

Ich musterte ihn aufmerksam. ''Du siehst nicht aus, als würdest du vor Armut fliehen. Wieso bist du hier??''

Bevor er etwas sagen konnte, knackte es im Gebüsch auf der anderen Seite. Mein Messer war auf einmal feuerrot. Auf der Lichtung erschienen Soldaten, sie trugen das Wappen Barihs auf dem bronzenen Brustpanzer. Sie hatten uns noch nicht entdeckt. ''Wie kommen wir so schnell wie möglich aus Barih raus, ohne das sie uns bemerken?'', fragte er hastig.

Ich deutete ihm an, mir zu folgen. ''Kannst du lautlos durch einen Wald laufen??'', fragte ich ihn flüsternd. ''Ich weiß nicht!'', wisperte er.

Ich lief vor. Deutlich konnte ich jeden seiner Schritte hinter mir hören, während meine Schritte gradezu auf die Erde fallenden Schneeflocken glichen. Kein Wunder, ich durfte nie ein Geräusch von mir geben, wenn hier unterwegs war. Ich wette, Adam musste noch nie darauf achten, kein einziges Geräusch von sich zu geben. Auch wenn seine Schilderung über Relev glaubhaft klang, ich konnte alles, dass mir seit Jahren eingeschärft wurde, nicht einfach so von einer Sekunde auf die andere vergessen. Das Bild des Reichtums der anderen Königreiche war ein festgesetzter Gedanke. Plötzlich hörten wir die Soldaten hinter uns herrennen. Sie machten Lärm wie eine ganze Herde Kronta.

Wir liefen so schnell, wie ich Adam zumuten konnte. Er wirkte irgendwie schwächer, als er es auf der Lichtung gewesen war. Obwoh er in Relev augenscheinlich nicht hatte hungern müssen, sah es auch nicht so aus, als hätte er zu viel gehabt. Ohne Zweifel, er hatte Muskeln genug, um einen Marsch von Relev bis hier locker durchzustehen. Trotzdem wollte ich nicht, dass er hier mitten im Wald zusammen klappte. Doch in der Geschwindigkeit, die wir jetzt hatten, würden uns die Soldaten binnen weniger Trii einholen. Adam schien meine Ungeduld zu spüren. ''Du brauchst keine Rücksicht auf mich zu nehmen! Sie sind nicht hinter dir her, sondern hinter mir!'', keuchte er. Wir waren mittlerweile aus Barih raus, doch ich hörte die Soldaten immer noch. Ich zog Adam zu einer Höhle, die – getarnt durch Schlingpflanzen – ganz in der Nähe war. Wir gingen in den hintersten Teil der Höhle. Dort würden wir uns leicht verteidigen können, denn man erreichte ihn nur durch einen schmalen Schlitz. Mein Messer hatte wieder seine stahlgraue Färbung angenommen.

''Ich werde dich nicht diesen..... Monstern überlassen! Wenn alles, was du sagst, wahr ist, dann werden sie dich nicht töten. Nein, sie werden dich quälen, bis du dir den Tot wünschst, bis du sie auf Knien anflehst. Und sie werden nicht gnädig genug sein, dir den Tot zu gewähren. Sie werden dich so lange weiter foltern, bis dein Körper aufgibt, bis du an den Qualen stirbst. Und das alles werden sie zur Volksbelustigung, zum Unterhaltungsprogramm machen.'' Meine Stimme war zwar leise, aber dennoch klar und deutlich. ''In Dilah passiert sowas nicht oft, höchstens zwei mal im Monat. Alle werden gezwungen, dabei zuzusehen. Wenn es etwas harmloses ist, wie zum Beispiel Diebstahl oder ähnliche Kleinverbrechen, dann hören sie nach ein bis zwei Stunden auf. Bei mittleren Vergehen gewähren sie den tot, aber erst nach frühestens einem Tag. Aber bei so großen Verbrechen wie Flucht hört man Tagelang bis Wochenlang – je nachdem, wie stark und alt das 'Opfer' ist – die Schreie bis in den Wald. Ich dachte, dass wäre nur bei uns so. Schließlich sind wir sowieso nur der Abschaum, also wieso sollten wir verschont werden? Wer will -''

''Du bist alles andere als Abschaum. Du bist besser, als alle Shim in Relev, Trinoa und Barih zusammen. Du bist zwar anders, aber na und? Wer aus Barih hätte mir geholfen? Wer aus Trinoa hätte sein Leben riskiert? Wer aus Relev hätte mir bei der Flucht geholfen? Niemandem wäre das Leben eines Fremden wichtig genug gewesen. Niemand hätte für einen Fremden alles riskiert. Vor allem nicht für jemandem aus einem anderen Königreich. Doch du hast es getan. Du bist einzigartig. Du bist der wundervollste Shim, dem ich je begegnet bin!'', unterbrach mich Adam.

Er sah mir fest in die Augen. Grün traf auf Blau, Relev traf auf Dilah. Plötzlich waren alle Unterschiede egal, es war egal wo wir herkamen. Es gab nur noch uns und die Verbindung, die uns vom ersten Moment an verband.

Adams Gesicht kam meinem immer näher. Mein Blick wanderte von seinen Augen zu seinen Lippen und wieder zurück. Dann senkten sich seine Lippen auf meine und in meinem Bauch lieferten sich Schmerterlinge Wettrennen. Nach einigen Sekunden löste sich Adam von mir. Ich spürte, wie ich rot wurde, und guckte auf den Boden. Sanft hob er mein Kinn. Ich sah ihm ins Gesicht. ''Ich bin froh, dass du aus Relev geflohen bist'', wisperte ich. ''Ich auch!'', flüsterte er zurück.

In diesem Moment flammte mein Messer wieder auf. Aber es leuchtete nicht rot, sonder Giftgrün.

Danke für die lieben Kommentare und dafür, dass ihr gewartet habt :** Ihr seid die besten :**

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