Im Zug von Zürich nach Locarno wurde ich zwischen Zürich und Zug von einer Frau angesprochen, sie war vielleicht 35 Jahre alt. Erstaunt schaute ich auf, ob sie mich kurz stören dürfe, wollte sie wissen. Klar, meinte ich. Wohin ich denn fahre? Nach Locarno, Endstation dieses Zuges. Sie lächelte und fragte, ob ich ihr helfen könne. Worum es denn ginge, das wollte ich dann wissen. Sie setzt sich in mein Abteil und beginnt zu erzählen. Ihr Sohn sei sieben Jahre alt, aber sehr Menschenscheu, bei Langeweile werde er aber ungeduldig, zappelig und laut. Ich nicke. Ihr Sohn, Patrick, werde von seinem Vater in Arth Goldau auf den Zug gebracht, von dort Reise sie dann mit ihm nach Locarno. Sie wolle etwas neues mit ihm zusammen ausprobieren - ein Detektivspiel, das erfordert, dass er mit verschiedenen Personen im Zug sprechen muss. Ich lächle und nicke. Ob ich den Schluss machen wolle? denn ich fahre ja bis am Schluss mit dem Zug mit. Ich stimme zu. Sie gibt mir einen Zettel mit einer kurzen Geschichte drauf und eine kleine Tüte. Ich solle einfach die Geschichte lesen und ihm, wenn er dann kommt, die Infos und das Säcklein geben. Sie steht auf und geht weiter auf der Suche nach Partnern für die Geschichte, ich lese den Zettel durch. Die Mutter hat für Patrick ein kleines Ferngesteuertes Auto gekauft, doch ist ihr das mit all dem Gepäck im Zürcher Hauptbahnhof abhanden gekommen. Ich hätte dort ein Säcklein gefunden, welches die Batterien für das Auto beinhaltet. Da ich keine Zeit mehr hatte, habe ich dies Säcklein mit mir genommen um es dann in Locarno als Fundsache abzugeben.
Der Zug hat inzwischen in Zug gehalten, ein paar Soldaten sind zugestiegen, sie lästern über die Kälte in Airolo und prahlen mit den Frauengeschichten vom letzten Wochenende. Der Zug rollt auf den Schienen dahin, ich frage mich, ob die Mutter all die benötigten Personen gefunden hat. Aus meiner eigenen Tasche nehme ich mein neu gekauftes Notizbuch, lege es zusammen mit dem Kugelschreiber auf das Tischchen und geniesse den Ausblick. Ich sollte in Locarno Informationen sammeln für eine kleine Führung. Die wichtigsten Informationen sind schon ausgedruckt in meiner Tasche, mehr Vorarbeit kann ich eigentlich nicht machen. Nur noch das Moleskin Notizbuch aus dem Zellophan befreien und den Duft von frisch verklebten Seiten einatmen.
Die Soldaten sind ruhiger geworden, die Smartphones nun wieder am Anschlag, sie spielen, schreiben Nachrichten oder schauen fern. Der Billettkontrolleur kommt, ich zeige ihm mein GA, die Soldaten nicken ihm nur zu und weisen auf ihre Uniform. Nächster Halt, Arth Goldau, sagt der Kontrolleur bevor er einen Wagen weitergeht. Der Zug beginnt zu bremsen, Arth Goldau heisst es erneut, dieses mal aus den Lautsprechern. Die weibliche Stimme klärt einen auch gleich über die nächsten Anschlüsse auf. Ein paar reisefreudige Rentner und weitere Soldaten warten auf dem Bahnsteig. Vermutlich hat die Mutter von Patrick für den vordersten Wagen abgemacht, denn mir fallen keine Kinder auf. Der Zug füllt sich, aus fast leer wird sporadisch besetzt. Die Rentner nehmen mehrere Abteile in Beschlag, Brote werden ausgeteilt, von den letzten Bergübersteigungen wird geprunkt. Die Soldaten grüssen sich nur noch, sie werden noch lang genug miteinander sprechen können. Ruckelnd setzen sich die Wagen wieder in fahrt. Jetzt wird Patrick wohl erfahren, dass seine Mutter das Feriengeschenk für ihn im Zürich Hauptbahnhof verloren hat. Wie lange wird Patrick wohl brauchen bis er hier im letzten Wagon ankommt? Gespannt schaue ich zur Tür, wissend, dass es nicht schneller gehen wird. Der Zug hält erneut, Schwyz, dann gleich in Brunnen. Die Soldaten versuchen noch einige Minuten zu schlafen, die Rentner sind in ein leiseres Kauen verfallen. Flüelen, ein Rentnerehepaar steigt zu und wird mit einem grossen Hallo empfangen. Erstfeld, der Zug hält kurz, rollt gleich wieder los. Drei Kirchen von Wassen später, in Göschenen angekommen, verlässt uns die erste Rentnergruppe, die Soldaten packen gemächlich ihr Hab wieder ein. Der Tag bleibt draussen während der Zug in den Gotthard Tunnel rollt, um auf der anderen Seite in Airolo wieder inne zu halten. Die meisten Soldaten verlassen den Zug, draussen stehen die Mannschaftstransporter mit laufenden Motoren bereit. Der Zug rollt wieder los, die Türe des Durchgangs geht auf, ein kleiner Junge mit strubbeligem braunen Haar tritt in den Wagen, er hält in seiner linken Hand ganz fest einen Plastiksack, mit der rechten hält er sich an dem Stuhlgriff. Das könnte Patrick sein. Ich beobachte ihn, wie er die Menschen in den Abteilen betrachtet, dann innehält und jemanden Anspricht. Ich höre seine Stimme: "Hallo Herr, haben sie im Hauptbahnhof etwas gefunden und mitgenommen?" Eine Männerstimme lacht bevor sie antwortet: "Nein Kleiner, ich bin erst in Zug eingestiegen - hast du was verloren?" Patrick: "Meine Mutter hat den Sack mit meinem Geschenk im Hauptbahnhof verloren." Der Mann: "Sorry, da soll deine Mutter am besten beim Bahnhof auf dem Fundbüro fragen. Und wenn sie es nicht findet, dann Helfe ich dir Suchen - hier hast du meine Karte. Ich bin Herr Braun vom Kriminaldezernat Zug. Du bist?" Patrick: "Ich bin Patrick - danke Herr Braun." Man hört ein leichtes schluchzen in der Stimme. Einer der Soldaten sagt da: "He Patrick, ich hab da was kleines für dich" und reicht Patrick einen Riegel Militärschokolade. Ein Lächeln huscht über die Lippen von Patrick, er nimmt den Riegel und bedankt sich: "Danke Herr..." Der Soldat lacht, bevor er meint: "nicht Herr, ich trage eine Uniform - da heisst es Soldat - Soldat Grün" Patrick: "Danke Soldat Grün" Der Soldat streicht kurz durch das Haar von Patrick. Die Stationsdurchsage kündet Faido an, Grün und seine Kameraden nehmen ihre Packung und verabschieden sich noch einzeln von Patrick. Mit einem Lächeln steht der Knabe im Gang, den Riegel immer noch in seiner rechten Hand. Er schaut den Soldaten zu wie sie aussteigen, winkt ihnen durch das Fenster nach. Erst als der Zug anrollt, dreht er sich um, schaut seine Tüte an, schaut auf und geht weiter. Er erblickt mich, ich bin in meine Notizen versunken. Patrick: "Hallo Herr - haben sie im Hauptbahnhof etwas gefunden?" Ich: "Hallo Kleiner - wie heisst du?" Patrick: "Patrick" Ich: "Hallo Patrick, ja, ich habe etwas gefunden, es lag vor mir auf dem Boden und ich wollte es in Locarno auf dem Fundbüro abgeben - mal schauen was es ist" Während ich in meiner Taschen nach dem Säckchen wühle, kommt Herr Braun durch den Gang. Ich ziehe das Säckchen hervor und nehme die Batterien heraus. Patrick hüpft auf, Herr Braun beginnt zu lachen. Braun: "Unglaublich, einfach unglaublich." Ich zu Patrick: "Für was brauchst du die Batterien?" Patrick: "Für mein Ferngesteuertes Auto das Mutter mir geschenkt hat." Patricks Mutter kommt gerade durch die Tür aus dem vorderen Wagen, sie bleibt stehen und Beobachtet das Spiel. Ich: "Wollen wir die Batterien gleich einsetzen?" Patrick: "Ja!" Er wühlt das Auto und die Fernbedienung aus dem Sack heraus. Wir drehen das Auto um, das Batteriefach ist verschraubt. Ich: "hast du einen Schraubenzieher?" Patrick schüttelt den Kopf und schaut mich traurig an. Patrick: "Haben sie - Herr..." Ich: "Herr Rot - nein, ich habe leider keinen dabei." Braun mischt sich ein: "warte kurz Patrick, ich hab einen in meinem Sackmesser." Braun holt seine Tasche und setzt sich zu uns ins Abteil, gemeinsam setzen wir die Batterien ein. Die Mutter von Patrick kommt zu uns. Patrick: "Mama - schau - Herr Weiss hatte recht, es wurde alles gefunden" Braun fragend: "Weiss?" Und da begann Patrick uns Erwachsenen die Geschichte des Findens seines Geschenkes zu erzählen. Bellinzona glitt an uns Vorbei, er erzählte von Frau Schwarz, welche ihm ein Getränk gab und vielen Reisenden, welche ihm halfen. Die Mutter lächelte, Herr Braun hat die Geschichte durchlickt und Amüsierte sich, ich war schlichtweg beeindruckt vom Erinnerungsvermögen von Patrick. In Locarno gingen wir noch zu viert ein Eis essen, Patrick war voller Freude am erzählen und wir hörten einfach zu.
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A wie Zerreissend
RandomKurzgeschichten? Von A wie Zerreissend bis Z wie Abenteuerlich. Oder ganz anders? Eine Sammlung von Kurzen Verworrenheiten. Kühlen Kopf bewahren, weiter lesen. Die Rechtschreibung nimmt sich hier die Freiheit zu sein wie sie will. Mal gross, mal...