Alltag

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Sanft legte er seine Lippen auf meine. Glücklich atmete ich seinen Geruch ein. Ich wünschte dieser Augenblick würde nie vergehen. Doch dann, bevor etwas anderes passieren konnte, löste er sich sachte, aber bestimmt von mir. Er umarmte mich ein letztes Mal. "Wir werden uns wiedersehen", flüsterte er mir ins Ohr, wobei sein Atem einen Schauder über meinen Rücken jagte. "Wann?", fragte ich traurig. "Das kann ich dir nicht sagen. Ich werde fortgehen, weit weg. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt." Aus traurigen Augen schaute ich ihn an. Das Glücksgefühl war verschwunden. Es fühlte sich so an wie damals. Der Gute-Nacht-Kuss. Diesmal war es aber Nezumi, der MICH küsste. "Ich werde auf dich warten!". Erfolglos versuchte ich meine Tränen zurückzuhalten, doch der Druck hinter meinen Augen wurde immer größer. Langsam löste sich eine Träne aus meinen Augenwinkeln und rann meine Wange hinab. Sachte strich Nezumi mit seinem Finger die Träne fort. "Schsch. Schon gut. Erinnerst du dich noch an meine Worte? Weine niemals um eine andere Person!" Dann wandte er sich abrupt ab und ließ mich zurück. Ich konnte nur noch seinen Rücken sehen. Zielsicher schritt er davon, während ich stumm vor mich hin weinte.
Plötzlich hörte ich einen Knall. Ein metallisches Zischen. Dann einen dumpfen und hohlen Aufprall. Ich sah nur noch wie Nezumis Körper sich aufbäumte. Dann war alles rot. Nezumi sank auf dem Boden zusammen, ein kraftlos Bündel. Dies geschah innerhalb von Sekunden, zu schnell, um reagieren oder helfen zu können. "NEZUMI!!!", schrie ich verzweifelt. Vergeblich versuchte ich durch meinen Tränenschleier hindurch, zu ihm zu gelangen. Doch ich konnte nichts sehen und spürte nur noch, wie zwei starke Arme mich daran hinderten, zu Nezumi zu gelangen. Sie hielten mich krampfhaft umschlungen.

Mit einem Aufschrei schrecke ich hoch. Ich sitze kerzengerade in meinem Bett. Mein Herz donnert gegen meine Brust. Ein Schluchzen steigt meine Kehle empor und droht, aus meinem Mund hervorzubrechen.
Jede Nacht das Gleiche. Jede Nacht erlebe ich diesen Albtraum. Diese Qual. Am liebsten würde ich weinen. Nezumi, wie er vor meinen Augen stirbt, obwohl ich auf ihn warten sollte.

Das mache ich immer noch. Warten und warten und nochmals warten. Seit einem Jahr, dem Tag, als No. 6 gestürzt wurde und er mich verließ.
Denkt er noch an mich? Wird er wirklich zurückkehren? Oder ist er für immer aus meinem Leben verschwunden?
Diese Zweifel plagen mich. Sie zermürben mich und machen mich fertig. Ich habe das Gefühl, daran zu zerbrechen.

Gespannt sitze ich in meinem Bett und starre Löcher in die Dunkelheit. Wie still und wie kalt es doch ist. Hört das denn nie auf?
Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. Es ist 1 Uhr morgens. Ich sollte noch versuchen, zu schlafen. Schließlich musste ich fit sein. Ich glaube, meine Mutter fängt schon an, sich Sorgen um mich zu machen. Immerzu sieht sie mich mit diesem Blick an, den ich nicht deuten kann.
Ok, ich sollte wirklich aufhören, mir meinen Kopf über solche Dinge zu zerbrechen. Natürlich habe ich besseres zu tun. Nezumi würde dich doch auch außen vorlassen und sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Komm, das schaffst du auch, ermuntere ich mich selbst.

Wohlige Dunkelheit umfängt mich, als ich meine Augen schließe. Aahh. Jetzt kann ich endlich in Ruhe einschlafen.
Fehlanzeige. Vor meinem inneren Auge taucht Nezumis Bild auf. Blutüberströmt. Für immer von mir gegangen. Er lässt mich alleine zurück. Oh nein. Ich spüre wie sich mein Magen zusammenzieht. Erste Anzeichen von Angst. Na super. Wollte ich nicht endlich schlafen und Nezumi eigentlich aus meinen Gedanken und Träumen verbannen? Ich bin ein hoffnungsloser Fall.
Übelkeit lässt mir die Magensäure hochkommen. Ich spüre wie sie höher und höher steigt.

Eilends renne ich ins Bad. Krampfhaft übergebe ich mich in die Toilette. Immer diese Panikattacken. Sie wollten einfach nicht aufhören. Egal was ich auch versuchte.
Das Schlafen kann ich jetzt auch vergessen, ich bin hellwach.

Ich beschließe, mich zu waschen und mir meine Sachen anzuziehen. Danach würde ich noch ein bisschen lesen.

Nezumi besaß viele Bücher. Er kann wunderbar Theater spielen. Und schon wieder fange ich an zu träumen. In meinen Bücherregalen stehen seitdem nicht mehr nur wissenschaftliche Bücher und Texte. Nein, weit gefehlt. Sehr oft findet man Shakespeare und Dramen von anderen Autoren dazwischen. Wie ich Nezumi vermisse. Diese Bücher erinnern mich an ihn. Sie sind das einzige, was mir von ihm "geblieben" ist.

Es wird niemals enden...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt