Der Wolf im Schafspelz

119 10 6
                                    

Der nächste Tag zieht sich wie Kaugummi. Minuten erscheinen mir wie Stunden. Sie wollen einfach kein Ende nehmen. Morgens fahren wir wieder ins Theater. Die Räume, die am Vortag betoniert wurden, werden nun mit Gips ausgekleidet. Die bereits mit Gips eingekleideten Räume müssen gestrichen werden. Zum Glück war die Forschung und Wissenschaft in Number 6 sehr gut vorangeschritten. Zu dieser Zeit waren sehr nützliche und neue Materialien entdeckt und hergestellt worden. So auch unsere benötigten Baumaterialien. Innerhalb von wenigen Stunden ist alles getrocknet, sodass direkt am folgenden Tag die Arbeit fortgeführt werden kann. Das spart Wartezeit.

Weil die Zeit für mich sowieso nur quälend langsam vergeht, gebe ich mich meinen Gedanken voll und ganz hin. Mein Hauptanliegen ist das Treffen mit Safu. Vorgestern sagte sie, am nächsten Tag würde ich die Informationen erhalten. Jetzt gibt sie mir die Neuigkeiten erst am Samstag. Das sind vier Tage später. Was mochte geschehen sein, das einer solchen Verspätung bedarf? So viele Fragen, auf die ich keine Antworten weiß. Deshalb lohnt es sich auch nicht, die Fragen zu stellen. So viele Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. Diese Unwissenheit macht mich rasend. Ja! Ich hasse sie! So fühle ich mich wieder wie dieser kleine dumme naive Junge, der ich noch vor einem Jahr war. Ich hatte gehofft, das alles hinter mir gelassen zu haben. Doch jetzt... Alles genau wie vorher. Wieder im Kontext mit der gleichen Person wie damals: Nezumi. Damals ging es um unser Wiedersehen. Diesmal werden wir uns bestimmt auch wiedersehen. Dieses Mal wird es ein anderes Ende nehmen. Das habe ich mir fest vorgenommen. Ihn noch mal gehen lassen? Nein! Nur über meine Leiche. Dafür habe ich nämlich viel zu sehr gelitten, um das noch mal erleben zu wollen und es ertragen zu können.
Zwar musste ich seine Entscheidung respektieren, aber letztendlich hatte es mich mehr mitgenommen als erwartet. Eigentlich hatte ich von Anfang an gewusst, dass Nezumi nach dem Fall Number Sixes gehen würde. Mir hat es nichts ausgemacht, aber nachdem er länger weg blieb, nicht von sich hören ließ und die Tage eintönig trostlos ins Land gingen, vermisste ich ihn. Seine Abwesenheit wurde unerträglich. Es war fast so, als ob er gestorben wäre, bloß dass es kein Grab gab, an welchem ich trauern konnte, und er eigentlich auch noch lebte. Doch die Sehnsucht nach ihm riss mich fast entzwei. In meinem Inneren herrschte eine gähnende hungrige Leere, die sich von nichts bekämpfen ließ.

Viele Freunde hatte ich noch nie. Eine Zeit lang nur Safu. Leider verschwand Safu nach der Zerstörung Number Sixes ebenso wie Nezumi. Bei ihr war es, weil sie eigentlich tot war und nur Elyurias überlebt hatte – wie ich dachte. Also war auch meine beste Freundin fort gewesen und ich war alleine. Inukashi war zwar bei mir, aber das ist natürlich was anderes, weil ich sie zu diesem Zeitpunkt nicht so gut kannte. Schließlich hatte ich sie erst vor kurzer Zeit kennengelernt und richtige Freunde waren wir – als Nezumi noch da war – nicht gewesen. Außerdem ist ihre Art halt sehr eigen und gewöhnungsbedürftig - wie Nezumis.
Jedenfalls hatte ich erst vor zwei Tagen, als Safu plötzlich vor mir stand, erfahren, dass sie noch lebte. Das war nur leider ein bisschen spät. Mir ging es das ganze Jahr über schon schlecht. Ich hatte niemanden zum Reden und war allein. Die Last der Einsamkeit drückte mich nieder. Zu meinem Leidwesen konnte ich mich aus diesem Teufelskreis nicht selbstständig befreien und helfen konnte mir auch keiner.
Während der Zeit, die ich bei Nezumi verbrachte, geschahen aufregende Dinge, ich lernte neue Erfahrungen kennen, erlebte viel Spaß, machte neue Bekanntschaften. Vor allem konnten wir uns gegenseitig necken und zanken. Es war nie langweilig. Trotz etlicher trauriger Momente konnte ich lachen und Freude im Herzen tragen.
Nach seinem Fortgang verschwand dieser rosige Abschnitt aus meinem Leben.

Die Realität holte mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Tristesse, Monotonie, Dunkelheit. So sieht die Welt aus. Ihre Farben sind grau und schwarz. Diese Welt besteht aus Trümmern und Ruinen. Überall nur Zerstörung. Ein einziges Trümmerfeld. Genau wie mein Herz, in dem viele kleine schmerzende Splitter sitzen, darin bohren und stechen. Sie nutzen jede Gelegenheit, mich an meinen Kummer zu erinnern. So etwas wie Ruhe gibt es nicht. So etwas wie Gelassenheit gibt es nicht. So etwas wie Freude gibt es nicht. Was macht der Mensch nun, um seinen Schmerz und das öde Leben erträglicher zu machen? Genau, er schaltet einfach alle hinderlichen Empfindungen aus. Auf diese Weise kann der Schmerz nicht mehr Besitz von ihm ergreifen. Zurück bleibt allerdings Leere. Ein großes tiefes Loch, das anstelle deines Herzens in der Brust sitzt. Nichts fühlen, nichts sehen, nichts hören. Jedenfalls größtenteils. Der Schmerz zerfrisst dich trotzdem noch langsam Stück für Stück.
Die Weise ist jedoch viel angenehmer und weniger schmerzhaft, aber auf Dauer verheerender. Denn wenn die Naht wieder aufreißt, wird alles nur noch schlimmer als es vorher schon war. Solche Gedanken geistern durch meinen Kopf, als ich an das vergangene Jahr zurückdenke.

Es wird niemals enden...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt