Welches Märchen?

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Befriedigt sah er auf sein Werk.  Er hatte Talent. Nicht nur, was das Schreiben seiner Geschichten betraf. Auch in der Entsorgung gewisser Beweismaterialien war er unübertrefflich. Was hatte Frau Huber gesagt?  Isa haben sie gefunden. Dann wird die Beerdigung wohl noch diese Woche stattfinden. Mörder nehmen immer an den Beerdigungen teil. Hmmmm. Anderseits werden alle Hausbewohner hingehen. Es fällt bestimmt auf, wenn ich nicht hingehen werde.

Es läutete an der Wohnungstür. Es war 18 Uhr. Wer konnte das bloß sein? Ralf stand auf und öffnete die Tür. Gedankenübertragung. Frau Huber. „Grüß Gott, Herr Ralf!“, flötet sie. Gott zu grüßen ist auf keinen Fall schon meine Absicht. Wenn ich alt und grau bin, irgendwann einmal. Doch nicht schon jetzt…..

„Geht’s schon wieder besser?“ „Ja, ich habe lange geschlafen und bin wieder einigermaßen fit.  Was brauchen sie denn, Frau Huber?“ Er hatte mit diesem neugierigen Luder noch keine zwanzig Sätze gesprochen seit er sie kannte, und heute kommunizierten sie schon zum zweiten Mal. Er sah sie etwas genauer an. Graue Haare, blaue Augen, eine kleine Brille auf der Nase. Rotkäppchens Oma? Außerdem wäre sie dann weg, denn der Wolf würde sie fressen und aus das Märchen. Hahaha! „Ich wollte nur Bescheid geben, dass am Freitag die Beerdigung stattfindet. Alle haben schon Geld hergegeben für einen Kranz vom Haus. Und alle haben auch schon gespendet.“ Sie fuchtelte mit einem offenen Kuvert vor seiner Nase herum.

Ach, wie schön. Hatten also schon alle gespendet. Eigentlich hätten sie auch mir das Geld geben können. Aufwandsentschädigung so zu sagen. Der Pferdeschädel, der Spritverbrauch…….. „Moment, ich hole gleich das Geld!“ Ralf ging in das Wohnzimmer und holte vom Kasten einen Hunderter. Er hielt ihn Frau Huber entgegen. „Ist das nicht ein wenig zu viel?“, fragte sie. Mein Gott, die ist dümmer, als ich gedacht habe. Ich werde einen ganzen Hunderter spenden, wenn ich doch ohnehin schon so einen Aufwand und eine Plackerei mit dem Gör hatte  .„Wie viel haben denn die anderen gegeben? Ich dachte, sie könnten mir wechseln. So auf die € 50,- herausgeben. Wäre das möglich?“

„Ach so!“, lachte sie. „Natürlich geht das, Herr Ralf. Die anderen haben zwischen 30 und 50 Euro gespendet“ , sagte sie und gab ihm das Wechselgeld . „Jetzt lege ich mich wieder nieder, damit ich morgen fit bin. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das Geschäft für die Beerdigung schließen kann. Ich habe jetzt schon eine Krankenvertretung bestellt……..“ „Werden sie ja sehen, Herr Ralf. Es werden auch ohne ihr Beisein genügend Leute kommen. Isa hatte jede Menge Freunde und Bekannte. Gute Besserung noch, ich geh dann mal!“ „Auf Wiedersehen Frau Huber!“, sagte Ralf und verschloss die Tür. Tief zog er die Atemluft durch die Nase ein.

 Das VERKÜHLT SEIN ist nicht so wirklich meines und auf „Nie mehr Wiedersehen“ wäre mir wesentlich lieber. So ein neugieriges Luder. Die Haustratsche eben. Jetzt kann sie gleich weitermelden, dass ich eventuell nicht an der Beerdigung teilnehmen kann, mir aber sehr wohl Gedanken darüber mache. Ich werde ihrer Mutter schon Beileid wünschen, im Stiegenhaus, wenn sie mir über den Weg läuft.

Ralf setzte sich wieder an den Küchentisch und blickte stolz auf seine Geschichte. Seine zweite Geschichte! Am Wochenende würde er den Erdhaufen verteilen und die Vorbereitungen für sein nächstes Märchen treffen. Gedankenverloren riss Ralf eine der mittleren Seiten aus seinem Block und teilte diese wiederum in vier gleich große Stücke. Er hatte so viele Lieblingsmärchen, dass er sich gar nicht sicher war, wo er weiterspielen würde. Er nahm den Schreiber und schrieb auf das erste Zettelchen in Großbuchstaben: RAPUNZEL. Er liebte dieses Märchen. Das wunderschöne Mädchen mit den ewig langen Haaren. Ein richtiges Mädchenmärchen. Ganz andächtig faltete er den Zettel auf ein kleines Päckchen zusammen.

Auf den zweiten Zettel schrieb er ebenfalls in Großbuchstaben: ROTKÄPPCHEN. Er freute sich schon riesig darauf, sein erstes Kind zu entführen. Irgendwie war er sich nicht ganz sicher, ob er dem schon gewachsen wäre. Kinder zu entführen wäre sicher nicht so einfach. Oder doch? ER musste an Natascha Kampusch denken. Die Polizei unfähige Wabbler. Jahrelange Gefangenschaft. Schade eigentlich, dass dies traurige Realität war und kein Grimm Märchen. Vielleicht würde er als Ralf Grimm seine eigenen Märchen erfinden. ER konnte das. Der Zettel wurde gefaltet.

Auf den dritten Zettel schrieb er wie auf die vorigen Zwei in großen Buchstaben DORNRÖSCHEN. Ralf überlegte. Ich habe zwar Dornen hinter meiner Scheune, die sind aber nicht all zu groß. Entweder pflanze ich Rosenbüsche und warte, oder……. Nein! Zu lange warten wollte er auf keinen Fall. Irgendwann sollte sein Märchenbuch ja ein Ende finden.  Auch dieser Zettel wurde fein säuberlich gefaltet und mit den beiden anderen auf ein kleines Häufchen geschoben.

Auf den vierten und letzten Zettel schrieb er SCHNEEWITTCHEN. Dies würde die größte Herausforderung sein. Entweder musste er sich sieben kleinwüchsige Menschen beschaffen. Doch, konnte man sieben Gefangene unter Kontrolle halten, auch wenn diese kleinwüchsig waren? Nein, auf gar keinen Fall. Oder er würde sieben Zwerge ersetzen müssen. Und alle waren geil auf Schneewittchen. Hahaha! Ralf faltete auch den letzten Zettel und legte ihn liebevoll auf den kleinen Haufen.

ER hatte sie. Seine Auswahl für  das nächste Märchen. Ralf stand auf und ging in sein Vorhaus. Er öffnete einen der Kästen und nahm einen alten Hut heraus. Er trug ihn in die Küche und stellte ihn auf den Tisch. Liebevoll strich er darüber. Es war der Hut seines Vaters.

Papa hat mir auch so viele Geschichten erzählt. Was hatte Papa noch schnell für ein Lieblingsmärchen? Etwas mit vielen Fischen. Nein, mit einem Fisch. Einem Butt. Genau, das war es. Ein sprechender Fisch. Auf jeden Fall werde ich mich später auch noch Papas Märchen widmen.

Er warf die vier Zettelchen in den Hut und rührte mit seinem rechten Zeigefinger kräftig darin. Es musste alles korrekt ablaufen. Nun waren die Zetteln gut gemischt. Ralf stand auf und ging zum Kühlschrank um sich für diesen besonderen Moment ein Bierchen zu genehmigen. Er öffnete die Flasche und setzte sich ohne ein Glas wieder an den Tisch. Er würde sein nächstes Märchen ein klein wenig dem Zufall überlassen. Zumindest dieses eine Mal. Ralf schloss die Augen und griff in den alten Hut seines Vaters. ER zog einen Zettel und legte ihn vor sich auf den Tisch. Von außen konnte man natürlich nicht erkennen, welches Märchen er gezogen hatte. Seine Vorfreude stieg, obwohl er wusste, egal was er gezogen hatte, es standen jede Menge Arbeit und Vorbereitungen an. Ralf nahm die Flasche und machte ein paar gierige Schlucke.

„Tamparampampam! Trommelwirbel!“, schrie er vergnügt.

Langsam öffnete Ralf das Zettelchen und las laut den Namen seines nächsten Märchens:

Der MärchenmörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt