Nur noch eine Nacht

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Nur noch eine Nacht

Er war auf seinem Hof angekommen. Er war müde, es war stockdunkel. Heute würde er mit seinem Märchen nicht mehr beginnen. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Ralf öffnete den Kofferraum und zerrte seinen Müllsack samt Pechmarie heraus. Plumps! Sie landete  hart auf dem Boden.  Er riss ihr den Müllsack vom Oberkörper. Gierig zog sie die frische Luft durch ihre Nase ein. Mit großen Augen starrte sie ihn an. „Kennst du Frau Holle?“, fragte er sie. Tanja sah ihn nur an. Der Typ hatte sie nicht mehr alle. Sie wurde niedergeschlagen und entführt, damit er ihr so eine bescheuerte Frage stellen konnte? Sie hätte das ganz leicht am Kiosk beantworten können.

Er schrie sie an: „ Kennst du das Märchen Frau Holle?“ Tanja nickte mit dem Kopf. Er lächelte. „Gut, das werden wir morgen spielen. Heute ist es bereits zu spät. Du wartest hier im Haus auf mich.“ Er zog ihr den zweiten Müllsack von den Beinen, packte sie am rechten Arm und zerrte sie auf ihre Beine. „Wir gehen jetzt hinein. Ich binde dich fest und morgen befreie ich dich, damit wir spielen können. Hast du das verstanden?“ Sie sah ihn mit immer noch größer werdenden Augen an. Er schob und zerrte sie durch eine uralte Holztür in das Haus hinein.  Der Putz blätterte von den Wänden und der Steinboden hatte auch schon bessere Tage erlebt. Überall Spinnweben. Hier konnte kein Mensch leben, dachte Tanja. Sie versuchte sich jedes kleine Detail einzuprägen. Vielleicht würde ihr irgendetwas bei ihrer Flucht behilflich sein. Er hat gesagt, er kommt morgen wieder. Gelegenheit zur Flucht?

Er zerrte sie in das hinterste Zimmer, in dem ein altes Bettgestell stand. Alte vergilbte Matratzen befanden sich darauf und sogar eine Daunendecke lag daneben. Er stieß Tanja bis zum Bett und befahl ihr: „Setz dich!“ Tanja setzte sich auf die nackte Matratze.  Er hob die Daunendecke vom Boden hoch und schüttelte sie aus. Staubfußen und Spinnweben fielen davon. Ein paar Käferchen und Spinnen suchten eilig das Weite. Er sah sich in seinem Zimmer um. Er brauchte einen Strick. „Wenn du dich nur einen Zentimeter bewegst, töte ich dich gleich. Ich hole nur kurz etwas, damit ich dich hier befestigen kann.“

 Befestigen? Der hatte ordentlich einen an der Waffel. Ich bin kein Stück oder Gegenstand. Aber, mach nur. Sobald du deinen Arsch von hier entfernt hast, bin ich weg. Und dann laufe ich zur nächsten Polizeiwache und werde dich anzeigen, du Wixer!

Ralf war viel schneller zurück als es ihr lieb war. Ihm war eingefallen, den Pferdestrick zu benutzen, mit dem er seinen Pferdekopf hochgezogen hatte. Dieser Strick war lang genug und roch außerdem noch nach totem Pferd. Das würde ihr sicher sehr gut gefallen. Außerdem hatte er eine Rolle Paketklebeband mit sich. Die lag schon ewig in der Scheune herum und würde ihm jetzt helfen, ihre Beine zu fesseln.

Ralf überprüfte ihre gefesselten Hände und war zu frieden. Das Silberklebeband hielt bombensicher. Ralf begann nun ihre Beine zu verkleben. An den Fesseln, an den Knien und an den Oberschenkeln. Mehrerer Runden jeweils. Er drückte ihren Oberkörper auf das Bett und drehte sie auf den Bauch. Da ihre Hände am Rücken gefesselt waren , würde sie so besser schlafen können.  Er verknotete das Seil bei einem sich am Kopfteil befindenden Bein fest.  Anschließend fuhr er zu ihren gefesselten Händen hinauf und knotete diese daran fest. Er fuhr mit dem Seilende an einem der sich am Fußende befindenden  Bettbeinen hindurch und zog daran. Mit dem Ende des Seils verknotete er nun ihre Fußgelenke. Schön gespannt alles! Fast wie im Mittelalter auf der Streckbank, dachte er.  Ralf musste lächeln. Gibt es mittelalterliche Märchen mit Folterungsdetails?

„Ich werde dich kurz verlassen, muss nur schnell was holen“, sagte Ralf und verschwand.

Er fuhr schnell nach Hause um die Dose mit dem Lackspray zu holen. Ralf packte noch einen Schlafsack in eine handelsübliche Supermarkttasche und holte vom alten Spinnrad seiner Mutter, das er vererbt bekommen hatte, eine Spindel. Er nahm auch eine Flasche mit Wasser und den angebrauchten Brotlaib aus der Brotdose mit.  Auch sein Handy durfte er nicht vergessen. Morgen war Dienstag. Er müsste seinen Kiosk natürlich öffnen. Ich werde gleich morgen früh Hans anrufen. Der wird mich ohne Probleme vertreten. Hans war der ehemalige Lebensgefährte seiner Mutter. Er war bereits 74 Jahre alt, doch sehr fit. Ab und zu vertrat er Ralf im Kiosk: Er vertraute ihm. Und Hans würde keine Fragen stellen. Das wusste Ralf. Dann machte sich Ralf auf dem raschesten Weg zu seiner Goldmarie zurück. 

Es war fast Mitternacht, als er seinen Hof erreichte. Er wollte ein wenig schlafen, damit er morgen fit war. Ralf legte die Rücksitze im Auto um und schlüpfte in den Schlafsack um sein Nickerchen zumachen. Im Haus war es ihm zu staubig und es huschte zu viel Getier herum. Hier war er sicherer aufgehoben.

Tanja wetzte und versuchte ihre Fesseln loszuwerden. Sie hatte nicht die kleineste Chance, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Müde und verzweifelt versuchte sie zu schlafen und für den morgigen Tag ihre Kräfte zu sammeln.

Um 5 Uhr wurde es hell. Ralf erwachte. Plötzlich fuhr er hoch. Ich habe den Hahn vergessen. Der scheiß Gockel….. Ralf verließ schleunigst sein Auto. Es war noch relativ frisch. Zuerst ging er in das Haus. Gut, seine Goldmarie war noch genauso festgezurrt, wie er sie verlassen hatte. Jetzt schnell hinaus und eine Gans holen, dachte er. Würde eben eine seiner Gänse den Gockelhahn spielen müssen. Gewisse Abweichungen waren ja erlaubt. Er ging raschen Schrittes um das Haus herum. Traurig. Von seiner Gänseschar waren gerade mal vier Stück übrig geblieben. Er trieb die so geschrumpfte Schar in das Gatter und schloss die Türe. Er würde nicht extra suchen, wenn er seinen Gockel brauchte.  Er freute sich riesig. Das Märchen konnte beginnen.

Ralf wartete noch ein wenig und rief um halb sechs Uhr Hans an. Hans war Frühaufsteher und schlürfte gerade seinen Kaffee.  Ralf bemühte sich sehr nur mit verschlossener Nase zu sprechen und hustete ab und zu ins Handy. „Nein, Fieber hab ich nicht. Nur Kopfschmerzen. Zwei Tage. Ja, das genügt. Ja, am Donnerstag bin ich sicher wieder fit. Danke, Hans. Bis bald!“ Lächelnd beendete er das Gespräch. Es würden ein oder zwei wunderbare Tage werden!

Ralf ging endlich ins Haus und weckte seine Goldmarie mit einem kräftigen Schlag ins Gesicht. Er hatte Wirkung. Goldmarie riss die Augen auf.

Der MärchenmörderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt