Kapitel 5 - Verflixte Kistentrödelblöderei

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Puhhh... Ich saß auf dem Boden, vor mir die Notizen und anderer Kram meines Vaters, und verbrachte die meiste Zeit mit Seufzen. Bisher hatte ich noch nichts Brauchbares gefunden, und das Einzige, das ich erreicht hatte, waren ein krummer Rücken und inzwischen eingeschlafene Beine. Die Kiste hatte mir in der Zeit nichts gebracht, obwohl ich so aufgeregt deswegen war. Ein paar Kritzeleien, ein paar Karten, wo hin und wieder ein Kreuz aufgemalt war, und darunter stand meist sowas wie ,Treffpunkt' oder Ähnliches. Manchmal auch nur drei Fragezeichen- die drei Fragezeichen, die jetzt in meinem Kopf wüteten. Da ich ja eine so blühende Fantasie hatte, sprachen die Fragezeichen in meinem Gehirn sogar. Das erste Fragezeichen meinte: ,, Warum hat Mama diesen Karton wegschmeißen wollen, und ihn dir nie gezeigt?" Das zweite Fragezeichen zweifelte: ,, Wirst du da drinnen wirklich etwas finden, und wenn ja, könntest du es überhaupt deuten und nutzen?" Das dritte Fragezeichen war eine Weile still und hörte den anderen zu, bevor es schließlich fragte: ,,Was hast du denn erwartet?" Ich seufzte wieder. Ja, was hatte ich eigentlich erwartet? Das da drinnen ein Zettel steckte, auf dem stand, er sei nur untergetaucht? Die Leiche von ihm sei nur eine Wachspuppe? Er würde zurückkehren, froh und munter, und wir würden wieder eine Familie sein? Zurück in unser alten Haus ziehen? Nein, ich durfte mich nicht in solchen irrsinnigen Gedankengängen verlieren, das würde mich nur noch mehr runtermachen. Ich musste bei den Fakten bleiben. Ich griff wahllos nach ein paar Büchern und blätterte sie durch- es ging um Einbrüche und Vermisstenanzeigen. Mit Schrecken sah ich, dass die Orte, an denen diese Leute entführt worden waren, zu den Kreuzen auf den Karten gehörten. Waren das etwa Notizen zu dem Fall, den Papa vor seinem Tod behandelt hatte? Endlich hatte ich so eine Art Ansatz. Wie besessen wühlte ich in den Notizen herum, und las jedes Einzelne durch. Als ich fertig war, wusste ich ein bisschen mehr: es ging um fünfundzwanzig vermisste Mädchen, das jüngste acht und das älteste siebzehn Jahre alt, die alle nacheinander entführt worden waren. Die Ermittler gingen von einem Triebtäter aus, aber aus Dads Notizen konnte ich herauslesen, dass er dachte, es stecke mehr dahinter. In einem anderen Büchlein fehlten die meisten Blätter, aber auf einem standen Fragen. Ich las sie mir durch. ,Komplizen?' , stand fettgedruckt darauf, aber es war durchgestrichen. Auf einem Blatt stand ,Motiv?', und darunter ein paar Ideen. Ein paar waren durchgestrichen, nur eines nicht. Ich schauderte, als ich ,Menschenhandel' las. Gott sei Dank war das durchgestrichen. ,Kindesmissbrauch'- durchgestrichen. ,Lösegeld'- durchgestrichen. ,Bei Einbrüchen im Weg'- durchgestrichen. Ein paar andere Dinge standen noch da, aber mein Blick wurde auf das Letzte, das einzig nicht durchgestrichene, gelenkt. ,Sonstiges'. Mich schauderte, als ich daran dachte, dass es etwas so Schreckliches, etwas so Bestialisches sein musste, dass er keinen Begriff dafür kannte. Was wohl mit den Mädchen passiert worden war? In einer Mappe waren auf jedem Blatt ein Foto eines Opfers und ein paar Informationen dazu. Ich unterdrückte nur mit Mühe die Tränen, die in mir aufstiegen, als ich das Foto der Achtjährigen sah. Sie war mit ihrer Familie abgebildet und man konnte ihr das Glück ansehen. Ich blätterte weiter, sie waren nach dem Alter sortiert. Mir fiel ein Muster auf; sie alle hatten unterschiedliche Augen und Haare, auch alles andere unterschied sich; aber sie waren alle schlank, schön, ohne Pickel oder Narben- makellos. Auf der letzten Seite, der Seite mit dem siebzehnjährigen Mädchen, war ein Fleck auf dem Foto zu sehen. Ich nahm ein Tuch, und wischte ihn vorsichtig weg. Dann schaute ich auf das Bild- und erschrak. Ich keuchte, und schmiss die Mappe quer durch das ganze Zimmer gegen die Wand. Nach Luft schnappend rannte ich zum Fenster, öffnete es mit zitternden Händen und zog gierig den Sauerstoff ein. Doch das Bild des entführten Mädchens ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Es hatte sich für immer und ewig in mein Gedächtnis eingeprägt. Ich hatte es schon einmal gesehen- die schulterlangen, lockigen braunen Haare, die großen, braunen Augen... es war zweifellos die Puppe, die in der Nacht mit mir gesprochen hatte.


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