Kapitel 6 - Schwarze Tränen

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Unmöglich, das konnte nicht sein... Oder etwa doch? Ich ging zurück zu dem Buch, das mit zerfledderten Seiten auf dem Boden lag, und hob es vorsichtig auf. Dann setzte ich mich wieder hin und schlug nochmal die letzte Seite auf, die Seite mit dem Bild der Puppe. Ihr Name war Anna. Sie sah tatsächlich genauso aus wie die Puppe aus meinem Traum! Wie vom Blitz getroffen stand ich auf, und rannte hinunter ins Wohnzimmer. Kurz vor der Tür blieb ich unschlüssig stehen, doch schließlich siegte meine Neugier. Langsam öffnete ich die Tür und trat in das nur spärlich beleuchtete Zimmer. Obwohl es das Wohnzimmer war, hielt sich hier nie irgendjemand auf, bemerkte ich. Bis auf die Puppen. Ich wollte gerade gehen, erleichtert, dass sich mein schrecklicher Verdacht nicht bestätigt hatte, als ich erstarrte. Die Luft blieb mir weg. Dort, in der hintersten Ecke der wahrlich sehr großen Couch, saß sie. Anna. Das Mädchen aus dem Buch, aber aus Porzellan, mit Sprüngen und weißen Augen. Ich lief zu ihr hin und kniete mich vor sie. ,, Hallo? Anna?" Mir war klar, dass sie mich nicht hören konnte, doch aus irgendeinem Grund wollte ich es trotzdem versuchen. ,, Bist du es? Die aus dem Buch? Ich meine, die... Die, die entführt wurde?" Sie antwortete nicht. Natürlich nicht. Ich stand auf und klopfte mir den Staub von der Kleidung. Da griff ich in etwas Nasses. Verwirrt betrachtete ich meine Hose. Auf ihr war ein schwarzer nasser Fleck, der sich deutlich von dem ansonst blauen Stoff abhob. Neugierig betastete ich den Boden vor der Puppe, genau dort, wo ich gekniet hatte. Ich griff wieder in etwas Nasses. Dann fiel mir ein, dass das Mädchen in meinem Traum geweint hatte... und zwar schwarze Tränen. Genau wie die Flüssigkeit hier. ,,Aber... Das ist unmöglich...", flüsterte ich. ,, Was ist unmöglich?", ertönte eine Stimme hinter mir. Erschrocken schnappte ich nach Luft, und drehte mich blitzschnell um. ,,Du!", rief ich wütend, und war mir sicher, meine Augen sprühten dabei Funken. David lachte und schüttelte seinen blonden Wuschelkopf. ,,Hab ich das heute nicht schon mal gehört? Hmm..." Er tat so, als müsste er überlegen, und zu meinem Entsetzen musste ich mir tatsächlich ein Lachen verkneifen. ,,Ach ja? Was für ein Zufall", antwortete ich genervt. Kichernd setzte er sich neben mich auf den Boden. ,,Und?" Ich runzelte die Stirn. ,,Was und?" Er stieß mich tadelnd in die Seite. ,,Was ist denn jetzt unmöglich? Ich wette, ich schaffe es." Ich musste widerwillen lachen, wurde aber sofort wieder ernst. ,,Nicht, wenn du dich nicht in eine Puppe verwandeln kannst..." Meine Stimme war leise, doch laut genug, dass er mich hören konnte. David erstarrte, seine Mundwinkel sanken nach unten und im gleichen Moment bereute ich es, das zu ihm gesagt zu haben. Was musste er denn jetzt über mich denken? Na toll, ich spürte förmlich das Wort ,Irre' auf meiner Stirn. Augenblicklich wurde ich feuerrot. ,,Ich muss jetzt gehen", meinte ich und stand ein weiteres Mal auf, diesmal jedoch, ohne auf die schwarzen Flecken auf meiner Hose zu achten. ,,Ja, das ist wohl das Beste.''  David und wandte sich von mir ab. Ein wenig enttäuscht über seine Antwort lief ich die Treppe hinauf in ,mein' Zimmer. Aber das war es nicht, es kam mir so kalt, so fremd vor. Mit einem Blick aus dem Fenster stellte ich fest, dass es Abend geworden war. Erschöpfung machte sich in mir breit, und ich legte mich in mein Bett. Ich war schon eingeschlafen, bevor mein Kopf das Kopfkissen berührte.



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