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Immer, wenn ich durch diese Schulgänge schlendere, werde ich daran erinnert, dass ich in meiner alten Klassen Freunde hatte, die für mich da waren. Freunde, die mich verstanden haben. Freunde, für die ich da sein konnte.

Klar, ich habe immer noch Freunde. Für Hausaufgaben oder einfach um in den Pausen mit ihnen rum zu hängen. Aber keine Freunde, denen ich Probleme in meinem Leben erzählen kann.

Aber es gibt etwas, dass ich immer wieder verschweige. Meine Vergangenheit. Ich selbst habe davon auch erst vor ein paar Wochen erfahren. Doch es weiß noch keiner, wie ich darüber denke.

Ich öffne mein Schließfach, das voll mit Büchern und Heftern ist und beginne, mein Schulzeug in meine schwarze Tasche zu stopfen, als mich meine beste Freundin Sirinda freudestrahlend von hinten umarmt. Siri (Sirinda) war mal in meiner Klasse, zwar nur von der 5. bis zur 7., aber die Zeit hat gereicht, um beste Freunde zu werden. Aber jetzt sind wir getrennt. Leider.

"Hey", begrüße ich sie und Siri rennt auf mich zu, um mich stürmisch zu umarmen.

"Wie war die Klassenarbeit gestern?"

"Ging", antworte ich monoton.

"Och, bist du schon wieder so depri? Was 'n los?"

"Nix." Irgendwas hindert mich daran, ihr zu sagen, was meine Vergangenheit, meine richtige Vergangenheit war. Es geht einfach nicht. "Nix spannendes."

"Na gut. Übrigens, ich hab heute ihn in der Bahn gesehen! Er hat mich sogar angelächelt!"

Ich freue mich ein bisschen für sie. Wenn ich mich schon nicht für mich freuen kann, dann wenigstens für Siri. "Echt? Du musst ihm mal deine Handynummer in seinen Besitz schmuggeln! Du schreibst sie auf irgendeinen scheiß Zettel und steckst ihm den beim Aussteigen schnell zu."

"Sicher?", fragt sie zögerlich.

Genervt entgegne ich: "Ja, mann."

"Na gut. Okay, wir haben nur noch 5 Minuten. Wir sehn' uns in Russisch!", erklärt sie mir und umarmt mich wieder. Einen kleinen Moment lang genieße ich die Geborgenheit in ihren zarten Armen. Aber eben nur kurzweilig.

Ich packe schnell mein Zeug fertig in die Tasche und mache mich auch auf den Weg zum Unterricht. Chemie. Eigentlich ganz interessant bei der Lehrerin, aber munter macht es trotzdem nicht. Nicht, wenn man bis um eins abends wach ist.

Ich habe doch vorhin erwähnt, dass ich geliebt werde, richtig? Ja. Und genau der Typ läuft mir jetzt über den Weg. Rasch sauge ich die Luft in mich ein, als gäbe es nicht genug und ich würde gleich ersticken. Ganz so ist das natürlich nicht. Ich meine, es ist schon süß, wenn er einen so schräg anlachelt, aber ich liebe ihn nicht. Es ist die Aufgabe von Paula, einer Freundin aus der Grundschule und meiner alten Klasse, ihn zu lieben. Und er sollte sie lieben. Das würden viel weniger Probleme bedeuten.

Weil genau das ist mein Problem: ich trage viel zu viel Mitleid mit mir rum. Würde ich ihn lieben und wir würden zusammen kommen, würde ich meinem Ex und meiner Freundin Paula das Herz brechen. Wenn ich ihn nicht liebe, breche ich nur ein Herz. Seines.

Was muss das Leben nur so kompliziert sein?

Naja. Er hat mich jedenfalls wieder so komisch angelächelt und ist die Treppe hoch. Ich stoße die angehaltene Luft wieder aus und gehe hastig weiter. Zwei Minuten, dann beginnt der Unterricht. Schnell stürme ich ins Zimmer, gehe zu meinem Platz ganz vorn und packe mein Chemiezeug auf den Tisch, als Melanie und Vanessa auf mich zukommen.

"Du bist aber spät dran", erinnert mich Vanni (Vanessa).

"Ich weiß. Auch einen schönen guten Morgen."

Es klingelt.

~

90 Minuten wenig mitarbeiten und 'aufmerksam' zu hören, dann ist Frühstückspause. Immer wieder lustig, wie sie alle rausrennen, damit sie ja pünktlich essen dürfen. Für mich ist das unwichtig. In meiner Brotdose befindet sich nur ein aufgeschnittener Apfel. Reicht ja auch.

"Hast du's kapiert?", holt mich Melli (Melanie)aus meiner Gedankenwelt wieder zurück in die Wirklichkeit.

"Nicht wirklich, du?"

"Geht so."

"Das is' sooooo mies! Ich will auch Russisch-Ausfall haben. Da könnte ich jetz' noch schnell Geschichte machen", sage ich gespielt kindisch.

"Du hast die Hausaufgabe nicht?", will Melli entsetzt von mir wissen.

"Öhmm ... ne. Naja. Angefangen." Jemand, das nach bester Freundin aussieht, gelangt in mein Blickfeld. "Ui, schau mal, da is' Siri, die grad' auf uns zugesprintet kommt wie eine Irre. Na du?", frage ich, als sie mir wieder in die Arme fällt.

"Na du? Wieder besser gelaunt du Morgenmuffel?"

"Ich könnte jetzt fies sein und sagen 'geht', aber ich bin nicht fies, also ja." Kurze Denkpause, bevor ich dann doch böse bin und lachend hinzufüge: "Relativ."

"Das nehme ich mal als Ja."

"Gut geraten."

"Ich geh schon mal, bis später", ruft Melli uns noch zu, bevor sie mit Vanni in der Menschenmasse verschwindet.

Aber dafür taucht jemad anderes auf. "Alle meine Entchen. Oh fuck. Ente schwimmt sogar wieder so komisch." Zu diesem Kommentar sollte man vielleicht wissen, dass wenn wir dem Typen, der mich liebt - ihr erinnert euch? -, den Decknamen Ente verpasst haben. Wenn wir alle meine Entchen singen, sehen wir ihn. Wenn Ente schwimmt, dann lächelt er uns an. Und das macht er gerade.

"Wo?", fragt Siri erschrocken.

"Nicht umdrehen. Er ist genau hinter dir ... Na endlich. Die Enten sind abgetaucht." Das heißt, er ist wieder weg. Im Übrigen heißt Ente Jayden. Seine Eltern kommen aus Irland, deswegen der englische Name.

"Oar, manchmal is der ganz schön gruselig. Nicole würde sagen creepy."

"Ja, das würde sie."

~

Das also ein kleiner Einblick in meine Schule. Ich weiß, viele sagen jetzt bestimmt 'hä? Der geht's doch gar nicht so schlecht! Ich wäre froh geliebt zu sein.' Aber ... wie heißt es so schön? Die Menschen, die immer Späße machen und immer lachen, sind die, die sich abends in den Schlaf heulen. (Spruch von suizid-ana) Und genauso ist es auch bei mir. Jeden verdammten Abend. Jeden. Ich sitze mit dem Messer weinend da und denke mir: ach, wie ist das Leben scheiße. Dann ein Schnitt. Dann Blut. Dann ist alles für einen kleinen Moment wie ohne Schmerz. Wie eine Droge. Bis man merkt, dass man sich damit nur noch mehr verliert.

VerbotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt