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Die Sonne scheint wärmend durch mein einziges Zimmerfester und wirft Schatten von den Bäumen auf meinen Schrank. Draußen pfeift der Wind geräuschvoll und bewegt die knarzenden Äste, so dass sie leise rascheln und mich aus meinem Schlaf wecken.

Hypnotisiert betrachte ich das verschwommene Schattenschauspiel und versuche zu verstehen, was es mir zu sagen hat. Die zarten dunkleren Flecken verschlingen sich ineinander. Lange her, dass ich das beobachten konnte. Die Sonne hat sich einfach die ganze Zeit hinter den Wolken versteckt.

Die Zeit. Eine physikalische Einheit. Aber auch ein Gefühl. Das Zeitgefühl. Wer es nicht hat, ist arm dran. Heißt das dann, dass ich arm dran bin? Egal.

Die Uhr zeigt jedenfalls mit ihrem großen Zeiger auf die 20, der Kleine auf die eins. Was? Zehn vor halb zwei? Shit. Aber das passiert mir meistens, wenn wir mal doch ab und zu frei haben. Leider immer noch zu selten.

Die Staubkrümel, die in der Luft herumwirbeln, nehmen meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Wenn man sie fotografieren würde und die einzelnen Teilchen verbinden würde, so wie man damals bei Malen-nach-Zahlen die Zahlen verbunden hat, würde dieses Muster dann Sinn ergeben?

Damals. Ich könnte jetzt schon wieder anfangen zu erzählen, aber ich will euch alle nicht nerven. Also nur lesen, wenn's euch interessiert. Wahrscheinlich wird es keine Sau interessieren.

Damals, zu Silvester wurde mir klar, dass ich einen Jungen liebte. Ich war in der fünften Klasse, da hielt ich noch nicht so viel von Liebe. Aber eines stand fest, dieser Junge bestimmt den Rhythmus meines Herzschlages.

Ich liebte ihn auch noch in der sechsten Klasse, ohne es irgendjemandem gesagt zu haben. Im Winter in der sechsten Klasse fing ich jedoch an, mir Gedanken darüber zu machen, dass ich ihn immer noch liebte und ich sonst nie einen Jungen so lange geliebt hatte. Ich meine, fast ein ganzes Jahr! Und das mit 11. In diesem Winter fand ich auch das Vertrauen zu Sirinda.

Ihr erzählte ich die ganze Story und sie erzählte mir ihre. Ja, sie war auch verliebt. Im Januar legten wir uns gegenseitig Freundschaftsketten um den Hals. Sie die weiße, ich die schwarze. Wir tragen sie immer noch.

Ich begann mir auch Sorgen zu machen, ob er mich liebte. Ob ihn andere liebten. Ich machte mir Sorgen um meine Uroma, sie wollte fast nix mehr zu sich nehmen. Ich machte mir Sorgen um meine Mom, sie sollte bald ins Krankenhaus und ich konnte meinen Dad nicht ausstehen.

Zusammengefasst: Meine Seele war voller Sorgen. Was zur Folge hatte, dass ich Suizid begehen wollte und eigentlich auch immer noch will. Nur eines hat mich gehindert: die Tränen von Siri. Ich wechselte meinen Glauben von Christlich zu etwas, dass jetzt bestimmt bescheuert klingen mag, aber ich glaube an den Mond. Luna. Wie auch immer, im Sommer war ich dann mit diesem Jungen zusammen.

Meine Seele wurde ein wenig entlastet.

In den Sommerferien starb meine Uroma. Ich weinte mehr als meine Mom. Ich wurde Ohnmächtig. Und das war einfach nur geil. Für diesen Moment waren die Sorgen weg. Die Stimme meiner um Hilfe bittender Mom schien Meilenweit entfernt. Aber trotzdem noch klar genug, um es zu verstehen. Für mich war es ein kleiner Einblick in den Tod.

Aber das Leben geht weiter. Egal, wie sehr man leidet.

In den Herbstferien schrieb ich meine Sorge meiner allerbesten Freundin, die in einem anderen Bundesland wohnt. Da kam alles Leid wieder hoch als hätte ich mich erbrochen. Aus reiner Dummheit schrieb ich in den Klassenchat "wie schön wäre es, jetzt Tot zu sein ..." Und das bedeutete Erklärung. Aus reiner Dummheit schickte ich das, was ich an meine allerbeste Freundin geschrieben hatte in den Klassenchat.

Damit tauchte ich unter schwarzen Sachen völlig ab. Im Januar musste meine Mom operiert werden. Im Februar durfte ich zum Ballett. Ich kann nur sagen, dass ich mich dabei frei fühle und das war wirklich ein tolles Geschenk. Ich machte mit dem Jungen im März Schluss. Ich zerstörte Julians Herz. Und wie schon mal erwähnt, trage ich sehr viel Mitleid in meiner Seele. Ich brach also meines gleich mit.

Was die Liebe nicht alles mit einem macht. Weil dann kam Christoph. Es war keine richtige Beziehung, aber ich konnte ihn wenigstens zeitweise heilen. Er war von Grund auf zerstört und ist jetzt durch mich wahrscheinlich nur noch zerstörter. Ich hoffe nicht. Es ist ein Wunder, dass er noch lebt. Und diesem Wunder bin ich dankbar, weil er in der Schule leider von den anderen als Psycho ein bisschen gemobbt wird. Kein Mensch hat sowas verdient.

Jetzt ist wieder fast Winter und ich bin immer noch unschlüssig, was ich denken soll, wenn diese Staubkrümel durch die Luft schwirren und sinnlose Muster ergeben. Sie schweben zu Boden. Keiner fängt sie auf. Freier Fall. Wenn auch langsamer Fall. Physik.

Unser ganzes Leben ist auf der Physik aufgebaut. In der Physik wird uns die Natur erklärt. Aber lasst uns nicht über die Physik reden.

Ich spüre, wie das Fett auf meinen Knochen ruht, als hätte es nix besseres zu tun als mich zu nerven. Meine verschnupfte Nase läuft, als würde aus ihr ein kleiner großer Fluss entspringen. Nervig. Das ganze verfluchte scheiß Leben ist nervig.

Entweder man ist nur leicht depressiv wie ich und leidet einfach nur, oder man ist so depressiv, dass man sich gewissenslos in den Tod stürzen kann. Ich wünschte, ich wäre entweder gar nicht oder zu sehr depressiv. Dann könnte ich es hinter mich bringen.

Außerhalb meines Zimmers pfeift der Wind immer noch nach wie vor dieselben Töne, die nicht wirklich eine Melodie ergeben. Nur das Vibrieren meines Handys zerreißt die Stille. Und ich denke mir einfach nur 'Fuck, hab ich das scheiß Teil gestern nicht ausgemacht?'

Ja anscheinend nicht. Scheiß Teil. Wer schreibt denn so schönes? Ich muss mich erst verrenken, um an dieses scheiß Teil namens Handy ranzukommen. Dieser Jemand muss ja auch unbedingt jetzt schreiben. Agrrrrr.

Und dann ist mein erster Gedanke, als ich den Namen lese folgender: 'Shit.' Weil es ist Julian. Wie passend.

Nachricht von Julian:
Hi, nur so als Info nebenbei: ich ritze mich immer noch. Und ich hab da mal 'ne Frage, kann es sein, dass du daran schuld bist? Weil ich dich nämlich nicht so einfach vergessen kann, du hässliches Kind.

Nachricht an Julian:
Hey. Sorry, dass ich dir diesen Schmerz zufüge. Aber ich kann meine Gefühle für dich nicht einfach wieder herzaubern, geht nicht :/ Und danke, aber ich weiß selber, dass ich hässlich bin. Traurig aber wahr. Wer ist noch daran schuld, dass du dich ritzt?

Jetzt bin ich aber mal gespannt, was der mir so schönes schickt ...

Nachricht von Julian:
Oh, tut mir leid. Ich wollte nicht abschicken, aber sowas hilft mir, Schmerz zu lindern ... Und du bist nicht hässlich, merk dir das! Wegen dem Ritzen, das übliche, Schule Eltern Familie ... du

Nachricht an Julian:
Ich sag' jetz' mal nichts dazu.

Angespannt schalte ich mein Internet aus. Schlafen. Müde. Okay, vielleicht ist es ja seltsam, wenn ich um zwei noch müde bin, aber ein kleiner Mittagsschlaf darf doch sein, oder?


VerbotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt