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"Fährst du mit der Viertelbahn?", fragt mich Melli am Schließfach, bevor wir den Test in Info schreiben.

"Jap. Vanni auch oder wird die gefahren?"

"Wird gefahren. Ich nehm' mein Zeug jetz' schon mit. Weil, eh wir dann nochmal hier rüber rennen. Spart doch auch viel mehr Zeit."

"Mh. Ich hol's dann. Wir dürfen unsere Jacken ja nicht, ich zitiere, 'im Gang liegen lassen'."

"Gut. Kannst du mir diese komische Wenn-Dann-Funktion nochmal erklären? Ich kapier das nicht."

Ich schließe die Tür und wir zwei machen uns auf den Weg zum Infozimmer, während ich Melli die Funktion erkläre.

~

"Also eigentlich ging der Test."

"Du fandest den leicht? Boar, ich hab fast nix aufgeschrieben und du fandest das leicht?", entgegnet mir Vanni fassungslos.

"Ja. Also naja, es ging ... Fuck, ich muss los, hab nur noch sieben Minuten. Tschüssi." Mit diesen Worten umarme sie noch kurz und verschwinde hastig aus dem Zimmer.

Am Schließfach angelangt, hole ich meine Jacke, dann will ich zur Bahn rennen. Aber eben nur wollen. Weil mir nämlich Jayden plötzlich im Weg steht.

Mir schießen tausend Gedanken durch den Kopf. Darüber, was man an meiner Stelle jetzt am besten macht. Einfach an ihm vorbeidrängeln und ihm noch einen Dolch ins Herz stechen? Ihm sagen, dass ich ihn nicht liebe und den Dolch in der Wunde drehen?

Doch während ich noch mit mir selbst kämpfe, werde ich gefragt: "Wohin denn so eilig?"

"Zur Bahn, du?" Meine schüchterne Stimme so leise geworden, dass ich bezweifle, er hat mich verstanden.

"Zu dir." Die Ente schwimmt. Und es ist nicht das erste Mal, dass ich mir wünsche, ich wäre nie geboren.

"Was ... was wolltest du bei mir?"

"Keine Ahnung. Weist du's?"

Ich schüttel' den Kopf.

"Naja. Ich fürchte, du musst jetzt langsam los, oder?" Man könnte meinen, seine traurigen Augen würden aus ihm sprechen. Sie haben ihren sonst so goldblauen Glanz verloren. Und durch diese matte Farbe darf ich für weniger als eine Sekunde lang in seine schmerzverzehrte Seele blicken. Dann hat er auch schon wieder seine Mauern, die ihn vielleicht vor der Verwundbarkeit durch andere Menschen schützt, aber die seine eigenen Wunden niemals heilen lassen können.

Ich starre durch die Luft, immer noch an dieselbe Stelle, wo seine Augen waren, bis mich das Ticken meiner Armbanduhr in den Wahnsinn treibt. Und mich daran erinnert, dass dir Bahn in vier Minuten kommt. Shit.

~

"Schönes Wochenende, Süße!"

Ich habe keine Zeit mehr, um Melli zu antworten, dass ich nicht süß bin und dass ich außerdem einen Namen habe, denn die Tür schließt sich hinter mir. Ich lächle sie nur noch gespielt böse an.

Alles an dem Satz 'Schönes Wochenende, Süße' stimmt gar nichts. Erstens, wird mein Wochenende nicht schön werden. Zweitens, habe ich noch gar kein Wochenende, ich muss noch zum Ballett. Beziehungsweise will ich dahin. Drittens bin ich nicht süß.

Mein Körper balanciert wie immer auf den Bahnschienen entlang, während ich in der Gegend rumstarre. Schritt für Schritt. Wie das Leben. man geht jeden einzelnen Schritt für sich allein und muss sich darauf konzentrieren, dass man nicht hinabstürzt, wenn man einen schlechten Gleichgewichtssinn hat. oder wenn man psychisch am Ende ist.

Ach ja ... das Leben. Wie lang es doch ist.so lang wie ein Tag. Man wacht eines Morgens auf und bereitet dabei seiner Mutter Schmerzen, dass sie schreit und sobald man wach ist, beginnt der Horror. Und dann ... ja dann liegt es an einem selbst, ob man nun früh wieder schlafen geht, oder ob man die Nacht durch macht.

Aber egal wie, irgendwann schläft man wieder ein. Irgendwann ist man tot. Ob man nun den ganzen Tag trauert oder ob man den ganzen Tag lang feiert bis zum Geht-nicht-mehr. Völlig gleich.

Und ich weiß nicht, wie spät es in meinem Leben ist. Vielleicht noch Morgen. Vielleicht noch Vormittag. Vielleicht aber auch schon später Abend. Keine Ahnung.

In unserem Garten angekommen, sehe ich auch schon, wie mein zwei Jahre älterer Bruder auf der kalten Wiese seht und mit seinem Kumpel eine raucht. Schnell ziehe ich die noch saubere Luft in mich hinein, bevor mich die von dem Rauch verseuchte fast zum Ersticken bringen kann.

Mich ekelt der Rauch an. Deswegen kann ich auch nicht eine Zigarette in den Mund nehmen, ohne gleich loshusten zu müssen und das Gefühl zu haben, dass jede meiner Zelle gleich vergiftet wird. Dabei würde ich so gern rauchen können. Einfach, weil es einen für kurze Zeit von seinen schlechten Gefühlen befreien kann.

~

Die Haustür plauzt hinter mir zu. Schnellen Schrittes gelange ich wieder über die Schienen an die Bahnhaltestelle. Hab' noch zwei Minuten. Die Musik meiner Kopfhörer dringt in meine Ohren. Laut. Fast zu laut. Dabei hab' ich es nur auf Lautstärke eins.

Ich betrachte die Leute an der Haltestelle. Ein älterer Herr, vielleicht 70 oder so. Eine Mutter, die ihren verspielten kleinen Sohn an ihrer Hand hält. Ein Teenie-Pärchen, das sich küsst. Autsch. Sowas tut weh. Wenn andere glücklich sind, nur man selbst nicht.

Bahn kommt. Sie ist typisch gelb. Wie man halt eine Straßenbahn in meiner Gegend kennt. Langsam kommt sie zum stehen. Ich drücke den Knopf und die Tür öffnet sich.

Nach zwei Stationen aussteigen, ein kurzes Stück zu Fuß zurücklegen uns schon bin ich am Bahnhof. Immer noch mit lauter Trap-Musik in den Ohren. Die Leute hier sehen genauso aus wie an der Bahnhaltestelle: glücklich. Nur ich bin ein Stich im Bild. Aber mit meinem Pokerface fällt es nicht ganz so stark auf.

Der Zug lässt auf sich warten. Solange, dass mein Blick auf die Schienen fällt. Gefährliche Gedanken suchen mich heim. Wie wäre es, wenn ich einfach mich auf diese metallischen Schienen lege und darauf warte, dass dieser Zug endlich kommt. Dann wären so viele Probleme weg. So viele.

Das Problem mit meiner Vergangenheit. Das mit Jayden und Paula. Das mit dem Gewicht. Das mit der Zeit, die vergeht, ohne anzuhalten und ohne, dass man mal einen kleinen Moment genießen kann, der einem gefällt. Alles würde plötzlich verschwinden.

Okay, ich fantasiere schon wieder. Nicht gut. Aber diese Gedanken kommen Woche um Woche wieder. Immer wenn ich hier stehe. Ob im Sommer, wo ich mich in der Sonne wärme oder im Winter, wo ich zittere.

Mein Blick ruht immer noch auf den Schienen, als die S-Bahn mit ihren Rädern laut darüberfährt. So laut, dass es die Musik in meinen Ohren übertönt.

Der Zug hält. Ich lasse die Leute vor mir aussteigen, bevor ich mich selbst hineinbegebe. Treppe hoch, Platz suchen, Platz finden, hinsetzen, Internet anmachen und Nachrichten checken.

Nachricht von Karina: (Freundin von Paula, auch aus meiner alten Klasse)
Hey, du weißt doch von Paula und Jayden, oder? Es ist nämlich so, dass Jayden dich mag. Also sehr mag und er will dich wegen der Tanzstunde fragen, ob ihr da zusammen tanzen wollt.

Geschockt lege ich mein Handy beiseite. Noch komplizierter kann es doch gar nicht werden.

VerbotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt