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Ich weiß, ich berichte euch die gazen Dinge zeitlos. Das heißt, dass bei dem einem mal Mittwoch ist, dann wieder Wochenende und direkt darauf schon wieder Mittwoch. Und richtig geraten: heute berichte ich vom Mittwoch, wie er nicht schlimmer sein kann. Okay, jeder Tag kann schlimmer sein als der andere, aber heute werde ich geimpft. Yayyy ...

Spürt ihr diese Ironie? Wie ich mich schon auf den heutigen Nachmittag freue?

Naja. Jedenfalls haben wir gerade die letzte Mathestunde dieses Jahr. Frau Wolf kann mich nicht leiden, obwohl ich mir immer Mühe gebe, dass sie mich irgendwann mögen würde. Das heißt, ich versuche mich so gut es geht, bei ihr ein zu schleimen.

Wir sollten uns in Gruppen einteilen und wegen dem Spaß an der Freude Spiele spielen. Vanessa und ich haben uns keiner Gruppe angeschlossen. Wir wollten Gleichungen lösen.

Und was machen wir gerade? Genau. Alles andere als Gleichungen lösen. Vanessa neben mir zeichnet Japanische Buchstaben und ich prüfe, ob die Zahl 1009 eine Primzahl ist. Mittlerweile weiß ich schon, dass ein a darstellen soll

Frau Wolf dreht ihre Runden im Klassenzimmer. Immer wieder bleibt sie stehen, um mit einzelnen Gruppen zu reden und sich beispielsweise über shoppen auszutauschen. Als sie bei uns ist, interessiert sie sich nur für die Japanischen Zeichen, die auf Vanessa's Blatt ordentlich in Reihe geschrieben sind.

Ich teile 1009 gerade durch 289. Ein Bruch. Dann schaffen es nur die Ziffern 1 und 0 auf den Bildschirm meines Taschenrechners und es klingelt. Endlich Schulschluss. Weil Schulschluss bedeutet, er kann mich heute nicht mehr fragen. Und seien wir doch mal ehrlich, ich hab viel zu viel Schiss, ihm den Korb zu geben.

"Yay, letzte Stunde Mathe für dieses Jahr ist vorbei!", jubelt mir Melli entgegen.

"Jap. Das waren eindeutig zu viel. Zumindest für dieses Schulhalbjahr. Bei Frau Wolf versteht man echt null."

"Schließfach?"

"Nu (=ja auf sächsisch). Haha, ihr habt morgen Schule", grinse ich ihr zu.

"Dafür habt ihr morgen Weihnachtskonzert."

"Weihnachtskonzert ist aber immer noch besser als Schule. Man hat lange Pausen und muss dafür nur wenig machen. Und wenn man was versaut ... "

Jayden. Mein Puls erhöht sich. Sein Blick trifft meinen. Die Ente schwimmt mal wieder. Ein kleines Lächeln ziert sich auch um meine Lippen.

Ich senke meinen Kopf und beende meinen zu Melanie gesprochenen Satz: "Wenn man was versaut, dann hört man's nicht."

Als ich wieder aufblicke, ist Jayden weg.

~

"Och, Mama, ich will nicht. Für was is diese Spritze überhaupt?"

"Gebärmutterhalskrebs, meine kleine Maus", wuschelt mir meine Mom durch meine kurzen, braunen Haare.

Ich ziehe meinen Kopf unter ihrer Hand weg. "Lass' das!"

"Na komm, wir sind dran."

Wir betreten das Arztzimmer. Mein Untergang naht.

"Soooo. Name? Geburtstag?"

Ich nenne meine Daten, bevor ich meinen turkisblauen Pullover von meinem Körper zerre. Der Arzt kommt auf mich zu, ein Tuch in der einen und eine Sprayflasche mit Desinfektionsmittel darin in der anderen Hand.

"Es geht ganz fix. Du bist doch tapfer, oder nicht?", versucht er mich erfolglos zu ermutigen, als er das Mittel auf das Tuch sprüht und dann damit meinen linken Oberarm zu putzen. Nur um meine Haut zu reinigen, weil er dann später mein Blut verunreinigen will. Wie sinnvoll.

Jetzt wiederholt er den Vorgang, putzt aber die Kanüle der Spritze, die mit einer Flüssigkeit gefüllt ist. Seine rauen Finger quetschen leicht mein Fett, dann rammt er die Spritze in meine Blutbahn.

Es ist ekelhaft, zu spüren, wie die Flüssigkeit in meinen Körper dringt. Wie sie sich ausbreitet. Pfui.

"Also dann, das war's. In vier Wochen wieder das gleiche, okay? Und du, Schätzchen bekommst noch ein Pflaster."

Na toll. Wie viel von dem Zeug soll denn noch in mich hineingepumpt werden? Die Kanüle wird wieder herausgezogen und mein Blut beginnt sich zu wehren, indem es aus meiner Haut blasenartig herausquirlt.

Mir wird ein weißes Pflaster über die Wunde geklebt. Der Arzt geht zu seinem Schreibtisch und kitzelt etwas in ein gelbes Heftchen. Mein Impfausweis. "So. Fertig", beendet er seinen Auftritt mit dieser Verunreinigung meines Blutes. "Auf Wiedersehen." Und damit verlässt er den Raum.

Ich ziehe mir meinen mir zu großen Pullover wieder an, dann gehen auch Mom und ich aus diesem hässlichem Gebäude namens Arztpraxis.

Vielleicht kann ich meinen Eckel ja erklären. Also den Eckel vor ärztlicher Medizin im Allgemeinen.

Ich habe schon mal am Rande erwähnt, dass ich an den Mond, an Luna glaube. Und, dass das alles bescheuert klingt, wenn ich versuche, es zu erklären.

Luna ist vor vielen Jahren entstanden, als die Erde nur mehr ein Ball aus Vulkanen war, die immer zu ausgebrochen sind. Bis ein anderer, kleiner Planet kam und mit der Erde zusammenprallte. Ein Teil von diesem Planeten verschmolz mit der Erde, die sich seit dem Aufprall schräg um ihre eigene Achse drehte. Der andere Teil des kleinem Planeten splitterte wieder von der Erde ab. Auch diese Splitter bildeten mit der Zeit einen Ball. Man nannte diesen Ball den Mond. Und wir sehen den Mond auch heute noch zu, wie er Jährlich drei Zentimeter von uns wegdriftet.

Luna ist also von der Natur geschaffen.

Ein Naturgesetz besagt, dass sich Masse anzieht. Deswegen haben wir Ebbe und Flut. Luna zieht das Wasser auf unserer Erde an.

Und ist ärztliche Medizin natürlich? Nein.
Okay, es klingt bestimmt nicht nur bescheuert, sondern auch abergläubig. Aber das bin nun mal ich.

~

Mein Kleiderschrank ist geöffnet. Und wie jedes Jahr stehe ich einen Tag vor dem Weihnachtskonzert davor und überlege, was ich anziehen soll.

Die Kleiderordnung besagt, wir sollen was Schwarzes anziehen. Jippie. Ein weiterer Grund, sich darauf zu freuen.

Ich werde ein Kleid tragen. Soviel steht fest. Ich habe fünf schlichte schwarze Kleider.
Eines, das mir zu lang ist und vor allem zu groß. Das fällt weg.
Eines, das ziemlich eng anliegend ist und golden glitzert. Glitzer fällt auf also fällt auch das weg.
Eines, das zu kurz ist und auch eng anliegend ist. Das scheidet auch aus, weil ich meine hässliche Figur nicht zeigen mag.
Eines, das oben geriffelt ist, also mit Muster und hinten sehr viel länger ist als vorn. Das ziehe ich also auch nicht an.
Und eines, das relativ weit geschnitten ist, nicht zu lang  und nicht zu kurz. Ich hatte es zur Beerdigung meiner Uroma angehabt. Und da es das einzige ist, das übrig bleibt, nehme ich das.

Dazu eine schwarze, dünne Strumpfhose, die wohl bemerkt ganz und gar nicht transparent ist.

Das Boljerojäckchen, damit man meine Narben unter dem ärmellosem Kleid nicht sieht.

Die kleinen schwarzen Ballerinas aus Kunstleder mit den kleinen süßen Blümchen vorne drauf.

Der neue BH, der meinen Busen ein klein wenig größer erscheinen lässt und ich bin Fertig mit dem Sachen herauslegen, die ich morgen zum Konzert anziehen will.

Hoffentlich fragt mich Jayden morgen nicht. Das kann er Paula nicht antun. Außerdem bin ich viel zu hässlich für jemanden wie ihn.


VerbotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt