4. Stock

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Vollkommene Dunkelheit und ein leeres Gefühl umgeben ihn, als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen lässt. Erst nach Sekunden, in denen er still im Raum gestanden ist, tastet er nach dem Lichtschalter an der rechten Wand. Die Lampen flimmern nur langsam auf, als wären sie genau so erschöpft wie er.
Wie jeden Tag, an dem er um neunzehn Uhr dreißig die Arbeit verlässt und um zwanzig Uhr zehn die spärlich eingerichtete Wohnung betritt, zieht er den Mantel aus. Er zieht sich um und nur wenige Minuten später findet er sich vor der Mikrowelle wieder. Selbst zu kochen wäre zu anstrengend für ihn.

Während das Abendessen aufgewärmt wird, sieht er flüchtig auf sein Smartphone. Zwei Anrufe in Abwesenheit. Fünf neue Nachrichten.
Von einer Person. Von einer Person, die er sehr mag. Von einer Person, die ihm ein Lächeln in sein eingefallenes Gesicht zaubern kann.

Aber er reagiert nicht darauf; das Essen ist mittlerweile fast fertig, und das schrille Klingeln der Mikrowelle ertönt. Er nimmt sich einen Teller aus der Spüle, trocknet ihn hastig ab.

Den restlichen Abend verbringt er damit, fern zu sehen. Die ganzen Sendungen sind langweilig, aber es gibt nichts, was er sonst tun könnte.

Er rafft sich auf, um auf den Balkon zu gehen. Vierter Stock, man hat einen schönen Blick auf die umliegenden Häuser. In wenigen Fenstern liegt noch ein Lichtschein, aber die meisten sind dunkel. Von der Straße hört man das Brummen von Autos, manchmal fährt auch ein Motorrad vorbei.
Aber diese Geräusche bekommt er gar nicht mehr wirklich mit.

Sie sind einfach da.

Sie existieren.

Mit einer zitternden Hand nimmt er eine Zigarette und führt sie zu seinem Mund, mit der anderen zündet er sie an. Und obwohl es kalt ist, wärmt es ihn ein wenig.
Er legt das Feuerzeug auf den Tisch und zieht stattdessen sein Handy aus seiner linken Hosentasche. Wieder sieht er die Anrufe und Nachrichten. Er zieht an der Zigarette und atmet tief ein. Wie schädlich das ist, weiß er. Aber er tut es trotzdem. Es beruhigt. Es beruhigt für einen Moment.
Er tippt mühsam den Pincode auf dem grell leuchtenden Touchscreen und wählt den Kontakt aus. Will eine Nachricht schreiben. Dann denkt er, wie so oft, an den nächsten Tag, wie an eine Last, die ihn langsam erdrückt. Ganz leise. Niemand bemerkt es. Aber er wird langsam niedergedrückt.
Von der einen auf die andere Sekunde verlässt ihn jegliche wenige Kraft, die er jetzt noch besessen hatte. Diese Gedanken, diese Angst, diese innere Müdigkeit.
Aber er kann sich aufraffen, eine Nachricht zu schreiben. Einen Hilferuf. An diese eine gewisse Person.

Er nimmt einen weiteren Zug von der Zigarette. Die Kälte lässt seine Finger inzwischen stark zittern, sodass ihm das Tippen schwer fällt. Einen Moment lang überlegt er, die Nachricht wieder zu löschen, aber der Funke Überlebenswille besteht darauf, sie zu senden.

Sekunden verstreichen, ein weiterer Zug von der Zigarette, er atmet tief ein und pustet den Rauch wieder hinaus. Das Handy vibriert. Zwar ist da ein wenig Freude, als er sieht, dass sie geantwortet hatte, aber selbst das wird von dieser Erdrückung überschattet.

Was gibt's?
Nicht viele Personen sind um elf Uhr vierundfünfzig noch wach.

Keine Ahnung. Mir geht es einfach scheiße.

Wieso? Was ist los?

Eine gute Frage. Das konnte er sich auch nicht beantworten.

Ich ... weiß es nicht. Ich kann nicht mehr.

Es dauert eine Weile, bis sie etwas schreibt. Zu lang, seiner Meinung nach. Er hatte es endgültig aufgegeben. Die Zeiten, als er noch versuchte, optimistisch zu sein. Immer ein Happy End zu erwarten.

Alles wird gut. Bitte glaub mir. Ich weiß, das sagen alle, aber wirklich, alles wird gut.

Nichts wird gut. Das weiß sie genauso sehr wie er.

Nein.

Doch. Es muss.

Wie schafft sie es, in solchen Situationen so optimistisch zu sein?

Ich weiß, dass alles scheiße ist.

Aber es wird wieder gut. Irgendwann.

Dieses Messer, das da auf dem Tisch liegt ...
was wäre, wenn .......

Kann ich dir irgendwie helfen?

Der Gedanke verfestigt sich in seinem Kopf. Ein Bild formt sich. Immer klarer kann er sich die Szene vorstellen.

Ich schätze nicht...

Es vergehen einige Sekunden, ehe er es schafft, den Satz zu schreiben. Es ist echt verdammt kalt. Aber zuerst raucht er noch fertig und drückt den Rest im fast vollen Aschenbecher aus. 

Ich habe Angst um dich ..

Jemand, der sich um ihn sorgt? Na klar.

Bitte, tu dir nichts.

Er merkt, wie ihre Nachrichten verzweifelter werden.
Langsam bewegt er sich auf das Sofa zu und lässt sich darauf fallen.

Versprich es mir.

Immer noch hält er das Smartphone in seiner Hand.

Hallo?

Müde tippt er wieder eine Nachricht.



Mhm

Er schickt es ab und schreibt noch etwas:

Gute Nacht, ich glaube, ich brauche einfach ein wenig schlaf. :)

Hoffentlich glaubt sie es ihm.
Und wirklich, nach einigen Sekunden hat sie geantwortet:

Bist du dir sicher?
Gute Nacht ..

Wieder ist er völlig alleine.

Ein Stockwerk tieferWo Geschichten leben. Entdecke jetzt