sechs

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SECHS

„Ich bin eigentlich zu dir rüber gekommen, weil ich mit dir über Harry sprechen will."

Kenzies Augen weiten sich, bei der Ansprache von Harry. Sie hätte gelogen, hätte sie gesagt, dieser Junge wäre nicht gelegentlich, in den letzten zwei Tagen, in ihren Gedanken aufgetaucht. „Was ist mit ihm?"

„Er redet endlich wieder mit mir," Gemma stellte ihre Teetasse ab. „Er findet dich echt großartig."

„Nun ja, er ist auch ziemlich hinreißend." lachte sie. „Hat er vorher nicht mit dir gesprochen?"

Gemma seufzte und schaute sich ausweichend in dem kleinen Wohnzimmer um. „Das wollte ich auch mit dir besprechen", meinte sie. „Harry ist ... besonders und klug, er ist einer von den Guten, natürlich auch eindrucksvoll. Er hat sich über mich aufgeregt, denn ich habe dich zu ihm geschickt, ohne dich über seine Erkrankung aufzuklären."

„Erkrankung?" keuchte Kenzie. Nun legte auch sie ihre Tasse aus der Hand. „Was hat er denn?"

„Er hat eine Zwangsstörung, auch OCD genannt. Schon seit einigen Jahren. Am Anfang dachten wir, er würde uns nur einen Streich spielen, aber eines Tages sind wir mit ihm zum Arzt und haben erfahren, dass er darunter und an manischen Depressionen leidet. Er war so oft im Krankenhaus, ist sogar für eine Weile in der Reha gewesen. Sieh mal, ich will dir bloß klar machen, dass er lange Zeit keine richtigen Freunde mehr gehabt hat. Ich möchte, dass du das weißt, weil es so scheint, als ob er dich wirklich gern hat, und ich habe Angst, er wird verletzt."

Kenzie hörte Gemma während ihrer Ansprache aufmerksam zu. Ihr leuchtete es nun mehr ein, wieso Harry sich so verhielt, wie er es tat. Sie verstand, wieso er die Wörter immer und immer wieder wiederholte, wieso er ständig die Tür auf und zu sperrte. Als er ihr erzählte, er müsse beim Lesen vorher die Zeilen eines jeden Abschnitts zählen, dachte sie nicht an eine verfluchte Störung, eher an eine schlechte Angewohnheit. „Ich dachte schon die ganze Zeit, er ist außergewöhnlich. Aber mir kam nicht in den Sinn, dass er an einer so ernsthaften Störung leidet. Hat er immer noch manische Depressionen?"

„Es ist schwierig mit ihm. Er wird sehr schnell wütend und frustriert, wegen der einfachsten Dinge, aber er nimmt seine Pillen nicht mehr. Und das nur, weil der Doktor meinte, es wäre nicht unbedingt erforderlich. Also hat er aufgehört, sie zu nehmen.

„Oh," Kenzies Blick senkte sich, bis er auf ihrem Schoss lag. „Aber er hat nicht immer mit bei dir gewohnt. Wo lebte er davor?"

„Mit unserer Mutter in Cheshire, a-aber es gab da einen kleinen ... Vorfall und dann war er in einer Art Anstalt, für einen guten Monat, bis ich ihn praktisch heraus gezwungen habe. Er wollte nicht gehen, aber meine Güte, er ist dort drin regelrecht verfault. Also habe ich ihm angeboten bei mir, hier in London, einzuziehen."

„Er war in einer Anstalt? Was hat er getan?"

„Das ist Harrys Aufgabe, es dir zu erzählen," Gemma biss sich nervös auf die Unterlippe. „Ich kann mir noch nicht einmal sicher sein, dass ich die ganze Geschichte mit ihren Details kenne."

„Du hast recht, gar kein Problem," sie gab ihr ein schwaches Lächeln. „Danke, dass du mir das erzählt hast," Kenzie griff nach Gemmas Hand, um sie beruhigend zu drücken. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie hart das für eure Familie war," wisperte sie.

„Ich hoffe, dass es nicht deine Meinung über ihn geändert hat," das Mädchen atmete aus.

„Doch," Kenzie nickt. „Er ist sogar noch besser, als ich es dachte."




OCD h.s. (German)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt