dreizehn

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DREIZEHN


„Weißt du was, du hast mir noch nie erzählt, wieso du mit bei Gemma wohnst", sprach Kenzie an, als sie aßen. Nun ja, eher, als sie aß. Er war viel mehr damit beschäftigt, sein Gemüse der Farbe nach zu ordnen.

„Oh", er schaute erschrocken auf seinen Teller. „Das ist eine lange Geschichte. Es ist nicht wichtig - wir müssen nicht darüber sprechen."

„Ich denke schon."

Es war nicht so, dass Harry nicht geplant hatte, Kenzie den wahren Grund, warum er bei seiner Schwester wohnte, mitzuteilen, er wollte es lediglich zum richtigen Zeitpunkt tun. Für Kenzie war dieser Zeitpunkt nun gekommen, doch er hatte angenommen beziehungsweise gehofft... es würde irgendwann anders geschehen. „Okay", er atmete tief ein. „Ich schätze, ich sollte dir davon erzählen, wie es diagnostiziert wurde."

Sie drückte beruhigend seine große Hand. „Bitte."

„Als ich sechzehn war, gab der Arzt bekannt, ich hätte eine Zwangsstörung und manische Depressionen. Das erklärte so einiges. Ich meine, davor dachte ich, es wäre normal seine Hände nach allem Möglichen zu waschen, seine Wörter mehrfach zu wiederholen, verschiedene Reihenfolgen aufzuzählen und all solche Dinge. Aber als ich jünger war, wurde ich so schnell aggressiv, auch heute noch, selten. In der einen Sekunde war ich zufrieden und glücklich, im nächsten Moment heulte ich, weil die Seife ausgegangen war."

„Egal, jedenfalls verschrieb er mir Medikamente und meinte, es würde alles besser werden. Es war eine Lüge. Ich hasse es, wenn Menschen lügen.", Harrys Blick wurde finster. „Lügner. Lügner. Lügner. Sie sind so schrecklich fürchterlich."

„Möglicherweise war er einfach nur optimistisch?"

"Nein er hatte gelog - ahh. Meinetwegen. Der erste Vorfall ereignete sich, als ich achtzehn war. Ich lebte noch immer bei meiner Mutter und ihrem Ehemann, meinem Stiefvater. Ich war so unglaublich unglücklich, jedoch konnte ich nirgendwo anders hin. Eines Tages sprach meine Mutter mit mir, sagte ich solle darüber nachdenken, auszuziehen. Sie machte weiter, fasste mich an, versuchte mich dazu zu bringen, zu gehen, war der Meinung ich wäre zu alt, um bei ihr zu wohnen, ich konnte es nicht fassen. Ich weiß jetzt, dass sie nur das Beste für mich wollte, aber damals fühlte ich mich so verraten, so sauer."

"Ich hatte eine Panikattacke", er fuhr fort, erzählte ihr davon, wie sich alles um ihn herum so angefühlt hatte, als ob es sich bewegen würde. Als wäre alles am falschen Platz, deplatziert und wie er es nicht ändern konnte. Darüber, wie er anfing, Gegenstände auf den Flur zu werfen, seine Sicht verschwommen von Tränen, die Einwände seiner Mutter ignorierend. Er versuchte so stark, aufzuhören, seiner Mutter zu sagen, sie solle ihn allein lassen. Doch letztendlich stieß er sie nur. Stieß sie vor Wut auf den Boden, brach dabei ihr Handgelenk, und das Alles nur, da er keine Kontrolle mehr gehabt hatte, darüber wer er war. 

"Einige Jahre verbrachte ich in der Reha. Ich habe meine eigene Mutter dazu gebracht, mich zu hassen. Sie hasst mich. Sie hasst mich. Sie hasst mich. Sie hasst mich.", meinte er vielfach, seine Augen waren wässrig. "Aber ich kam aus der Reha raus, hatte sogar eine eigene Wohnung. Darauffolgend hatte ich für ein halbes Jahr keinen Kontakt mehr zu Robin und meiner Mutter. Dann, in einer Nacht, ich weiß nicht was passiert war, funktionierte meine Alarmanlage nicht mehr, also rief ich mehrmals bei einem Betrieb an, der sie reparieren konnte, doch sie sagten mir nur, dass sie bis zum nächsten Tag nicht helfen könnten."

"Ich hatte Angst. Ich dachte, jemand würde kommen und mich umbringen wollen - nein, ich war mir sicher, jemand würde kommen und mich umbringen. Ich zitterte und weinte, rief jeden, den ich kannte, an, um mich zu verabschieden. Ich warf Dinge umher, aber ich konnte nicht einfach gehen, ich wusste nicht wohin."

"Als letztes betätigte ich einen Anruf bei meiner Mutter. Ich entschuldigte mich bei ihr, dafür dass ich ihr so eine Last war. Dafür, dass ich sie dazu brachte, mich zu hassen. Sie log mich an, meinte zu mir, sie würde mich immer lieben, egal was passieren würde. Sie sagte, ich reagiere über, aber das stimmte nicht. Ich teilte ihr mit, ich wäre nicht sicher. Ich war nicht sicher. Ich war nicht sicher. Ich war nicht sicher. In dieser Nacht kam sie zu mir, entschuldigte sich und versuchte mich zu beruhigen. Es ist - ich wusste, es würde mir nur besser gehen, wenn ich mich zurück in die Klinik, zur Rehabilitation, einweisen lassen würde. Das war auch das, was ich tat. Ich wollte gehen."

"Wenn Gemma mich nicht dort rausgeholt hätte, würde ich noch immer drin hocken."

Kenzie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste, seine Geschichte war hart, aber sie hatte etwas anderes erwartet. Zu hören, wie gebrochen er war, wie verletzt - brach ihr das Herz. Sie blieb still, äußerte sich nicht, zog ihn lediglich in eine feste und innige Umarmung, während beide ihre Tränen vergossen. Sie war Harry nun noch näher, als zuvor.

"Ich liebe dich so sehr, Kenzie. Danke, dass du mich noch nicht verlassen hast." schniefte er.

"Ich verlasse dich nicht, Harry. Das verspreche ich dir."

Kenzie dachte nie darüber nach, dass die Möglichkeit bestand, Harry würde sie verlassen. 

"Ich habe", er seufzte. "Ich habe nur so eine große Angst davor, dass ich dich eines Tages durch etwas verletze." Der Tag hätte nicht näher sein können.

"Aber das wirst du nicht. Ich weiß, du wirst es nicht."

  





OCD h.s. (German)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt