Bitter Sweet Symphony

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Noah saß im Schneidersitz auf seinem Bett und blätterte durch die Seiten seines ersten Gedankenbuches. Gedankenbuch, so nannte er die anfangs leeren dinA5 Bücher, die er sich kaufte, um sämtliche Emotionen, die ihn beschäftigten und quälten, zu Papier zu bringen. Seine erste Psychotherapeutin, von den fünf, die er bisher hatte, riet ihm zu diesen Büchern. Sie bezeichnete diese allerdings als „Tagebücher“, was ihm allerdings zu kindisch und vor allem sehr unpassend vorkam. Er schrieb schließlich nicht jeden Tag hinein, manchmal sogar nur alle drei bis vier Monate. Außerdem schrieb er ausschließlich über sein Innerstes und nicht über Tagesabläufe oder eben über das,  was man mit dem Wort „Tagebuch“ in Verbindung bringt. Er überflog die Seite, die am unteren Rand mit einer umkreisten 30 gekennzeichnet war, und blieb an dem Satz „ich hab‘ das Gefühl, es könnte alles wieder gut werden“ hängen. Er schnaubte verächtlich, als sich seine traurigblickenden blauen Augen mit Tränen füllten. Er war so wütend und enttäuscht. Wie naiv war er doch damals gewesen? Dabei hätte er es besser wissen sollen, nein, sogar müssen. Noah legte seinen Kopf in den Nacken und schloss seine Augen, um sich zu konzentrieren und dem Schmerz keinen Freiraum zu lassen. Wie konnte es nur so weit kommen? Er nahm jeden Abend eine von den Antidepressiva und eine von den Beruhigungstabletten, die ihm sein Hausarzt verschrieben hatte. Dabei war er gerade einmal siebzehn Jahre alt, siebzehn, verdammt! Er klappte das Buch zu, legte es auf seinen Nachttisch und ließ sich mit ausgestreckten Armen und Beinen auf den Rücken fallen. Dann starrte er an die Decke, wie er es schon tausende Male zuvor getan hatte und dachte darüber nach, wie es zu seiner scheinbar aussichtslosen Situation kam.

...Alles fing an seinem ersten Schultag am Gymnasium an. Er betrat die für ihn unbekannte Schule durch den Haupteingang und sah unsicher nach links und rechts, seine rechte Hand hielt einen Rucksackträger. Wo war nochmal das Klassenzimmer der 5a? Es klingelte zum Beginn der ersten Stunde und plötzlich erinnerte er sich an den Weg zu seiner neuen Klasse. Hektisch rannte er los und war in Gedanken bereits im Klassenzimmer angelangt, wo ihn dann alle anstarren würden, weil er zu spät kam. Doch er wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen, als er mit jemandem zusammenstieß. Noah strich sich den Pony seiner damaligen dunkelblonden „Surfer-Matte“ aus dem Gesicht und sah erschrocken auf. Da stand sie vor ihm mit ihren langen goldblonden Haaren und blickte ihm aus leuchtenden grünen Augen direkt in seine. Er stolperte einen kleinen Schritt rückwärts, ohne dieses unglaublich hübsche Mädchen aus den Augen zu lassen und stammelte ein atemloses „‘tschuldigung“. Sie lächelte und Noah rannte an ihr vorbei. Er kam zu spät! So ein Mist!...

So fing damals alles an. Wenn er darüber nachdachte, war es beinahe witzig, wie sich dieser scheinbar so unbedeutende Zusammenstoß auf die darauffolgenden Jahre ausgewirkt hatte. Was wäre passiert, wenn er gar nicht erst spät dran gewesen wäre? Dann hätte er nicht rennen müssen und wäre vermutlich niemals mit ihr zusammengestoßen. Dann wäre sie ihm gar nicht erst in den Kopf gekommen, um von dort scheinbar nie wieder zu verschwinden. Was wäre passiert, wenn er einfach auf die Realschule gegangen wäre, wie seine ganzen Grundschulfreunde? Zwar wäre das wahrscheinlich für seinen Schnitt von 1,6 zu schade gewesen, aber dann wäre er ihr damals gar nicht begegnet. Vielleicht sogar nie? Vielleicht. Wie sagt man? Hätte, hätte – Fahrradkette. Aber  zwei Fragen stellte er sich bis Heute: Wie konnte es passieren, dass etwas so harmloses so eskalieren konnte? Und wie zur Hölle konnte sie ihm das alles nur so skrupellos antun?

…Noah fand in seiner neuen Klasse schnell Freunde und so wurden Kai und Mo seine besten. Er saß in jedem Fach neben ihnen, redete mit ihnen über alles und erzählte ihnen sogar davon wie er am ersten Tag zu spät kam und warum, aber nicht, dass er mit diesem Mädchen zusammenstieß. Er hatte das Gefühl, es sei noch nicht an der Zeit darüber zu reden und gleichzeitig fragte er sich, warum ihn dieser eigentlich belanglose Zwischenfall so sehr beschäftigte. Auch wenn er Kai und Mo nicht einweihen konnte, wollte er dieses Mädchen wieder sehen. Er entschloss sich nach langem Überlegen dazu, jede Pause mit einem Vorwand durch das ganze Schulhaus zu heizen, in der Hoffnung, ihr so erneut über den Weg zu laufen. Also klaute er regelmäßig Kais Mäppchen und startete somit eine Verfolgungsjagd, die nach außen hin keinen Hintergedanken vermuten ließ. Ab diesem Punkt war ihm klar, dass er nicht so war wie die anderen Jungs in seinem Alter. Das erste Jahr auf der neuen Schule, war ansonsten nicht sehr spektakulär, da es sich zum einen ziemlich schnell dem Ende neigte und zum anderen konnte er nicht viel mehr über das Mädchen herausfinden, ohne dass Mo und Kai Verdacht schöpfen würden. Das Einzige, was er noch über sie wusste war, dass sie definitiv ein paar Jahre älter war als er. Wie viel genau, konnte er aber noch nicht abschätzen und auch nicht, was das einige Zeit später für eine Rolle spielen würde...

Er stand von seinem Bett auf und stellte sich die Frage, was sie wohl tun oder sagen oder denken würde, wenn sie wüsste, wie oft er an sie denken muss, obwohl es das Letzte ist, was er wirklich wollte. Er würde diese Gedanken am Liebsten verdrängen, in eine Box packen, die Box eintüten, dann in eine große Holzkiste rein, abschließen und mit einer dicken Eisenkette umwickeln, das Ganze dann mit einem riesigen Vorhängeschloss versiegeln und den Schlüssel in den Pazifik werfen oder noch besser: einschmelzen lassen. Er konnte darüber auch mit keinem sprechen, denn dazu war der Redebedarf einfach zu groß. Das ging noch nichteinmal mit Mo, seinem mittlerweile besten Freund, der als Einziger alles über Noah wusste. Denn Mo hatte selbst genügend Probleme, mit denen er kaum fertig wurde, da wollte Noah ihm nicht auch noch sein Elend aufbürden. Stattdessen hielt er sich immer  wieder den Gedanken vor Augen: Es gibt Menschen, die haben nichts zu essen und zu trinken, geschweige denn ein Dach über dem Kopf. Also sei froh, dass du das alles problemlos haben kannst. Das war einer der wenigen Gedanken, die seinen Kopf wenigstens für ein paar Stunden oder sogar einen Tag freimachten. Ein Anderer, war der Gedanke an sein in eineinhalb Jahren bevorstehendes Abitur. Nachdem er nach der letzten Klasse eine Ehrenrunde drehen durfte, war nun ranklotzen angesagt. Da konnte er sich solche Gedanken oder gar Einbrüche nicht leisten. Für seine Depressionen war auch kein Platz. Ebenso wenig konnte er irgendetwas versuchen, um sie für sich zu gewinnen beziehungsweise ihre Meinung zu ändern. Es war aber auch weder Zeit für große Planung, noch für eine Umsetzung. Noah hob seinen Mp3-Player vom Boden auf, setzte sich die Kopfhörer auf und drückte auf Play. Der Mp3-Player war auf Shuffle gestellt und sofort dröhnte ihm von Simple Plan addicted ins Ohr „I’m tryin‘ to forget that, I’m addicted to you, but I want it and I need it, I’m addicted to you…“

…Noah saß im Klassenzimmer ganz hinten im Eck mit den Stöpseln im Ohr und sah aus dem Fenster. Er summte leise die Melodie von einem Simple Plan Song mit und dachte dabei mal wieder an sie. Kai und Mo waren immer noch komplett ahnungslos. Wie hätte er ihnen auch erklären sollen, dass er immer noch an das Mädchen denkt, in das er am ersten Schultag im vergangenen Schuljahr gerannt ist? Er wusste doch selbst nicht, was das zu bedeuten hatte. Er wusste auch nicht, wie er dieses Gefühl nennen sollte, das er hatte, wenn er sie sah. Er hatte aber den Eindruck, dass seit der Begegnung mit ihr, Farbe in sein Leben gebracht worden war. Es zog nicht mehr jeder Tag einfach an ihm vorbei, wie beispielsweise in der Grundschule. Er nahm alles ganz genau wahr. Jede Situation, jeden Moment, jede Besonderheit. Einfach alles war anders, aber es war gut. Nein, es war sogar besser. Sie hat einfach alles besser gemacht und weder Noah noch dieses Mädchen konnten dies verstehen. Sie wusste es noch nichteinmal, aber er wollte es sie wissen lassen. Er wollte sie wissen lassen, dass sie ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Er wollte sie wissen lassen, dass sie ihm jeden Tag erhellte, aber zuerst musste er ihren Namen herausfinden. Nur wie?...

Noah riss sich aus seinen Gedanken und schaute auf die Digitaluhr auf seinem Nachttisch. Es war bereits 21:27 Uhr. Er hatte mal wieder komplett die Zeit vergessen. Er nahm die Flasche Wasser, die neben seinem Bett am Boden stand und die Antidepressiva vom Nachttisch. Er drückte auf die Rückseite der Filmtabletten, um eine davon herauszudrücken. Die Pille fiel auf die Matratze und anschließend vom Bett auf den Boden, wo sie dann unters Bett rollte. „Ach fuck!“, fluchte Noah und baumelte kopfüber vom Bett, um zu sehen, wo dieses verdammte Ding lag. Er streckte seinen Arm nach der Antidepressiva-Pille aus, aber sie war zu weit unters Bett gerollt. Da hörte er ein vertrautes Geräusch durch sein gekipptes Fenster. Er konnte aber nur hören, da er die Rollläden am heutigen Tag, aufgrund seiner schlechten Laune, lieber komplett unten ließ. Noah hört eine Autotür knallen, gefolgt von dem Geräusch, das es machte, wenn man einen Schlüssel an einem Bund ins Schloss steckte und aufschloss. Noah sprang auf und lief schnell aus seinem Zimmer in den Flur und öffnete die Tür zum Gang, der direkt an der silberfarbenen Garderobe an der rechten Wand über der rechteckigen hölzernen Kommode zur Haustür führte. „Hey Dad, was geht ab?“

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Teilt eure Meinungen mit mir und gebt mir ein Feedback, wenn ihr genaueres über das "wer? wo? wie? und warum?" wissen wollt! :D - übrigens hab ich ein Bild von Noah angefügt, bzw wie ich ihn mir vorstelle

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