Kapitel 6

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《Verloren》

Die Morgenstunden nahten sich. Es war ein fahler Morgen, mit dichtem, wallendem Nebel. Eine feuerrote Kugel hob sich vom Bergesgipfel auf und beleuchtete mit ihrem ersten goldenen Lichtstrahl das Haus. Es fühlte sich immer noch unlebendig an, aber zumindest hatte es nun ein wenig mehr Farben als der vorherige Morgen. Manche Gepäckstücke waren ausgepackt und in passenden Plätzen eingeräumt. Die ersten Möbeln schlüpften aus ihren Koffern und einige Kleidungen lagen schon in den Schranken. Der bestaubte Boden war gesäubert und die alten Spinnenetzen, die vorher überall an den Wänden gehangen hatten, waren weg.

Monika, eine 39-jährige mit schwarzen Haaren, lächelte zufrieden. Eine Strähne ihrer zerzausten Haare fiel von oben ab und blockierte ihre Sicht. Vor ihrem Spiegel stehend beobachtete sie sich mit einem grimmigen Gesicht. Es war eine seltsame, alte Antiquität von ihrer Mutter, ellipsenförmig und mit glänzenden, braunroten Ästen und Blättern geschmückt, die sich ringsrum an den Spiegelrahmen anpasste. Komischerweise wirkten die Pflanzen immer noch lebendig... obwohl der Spiegel vor Generationen geschaffen wurde. Es sah fast aus, als würde aus dem künstlichen Schmuck bald Blumen in voller Blüte wachsen. Nicht weil Monika ein altmodischer Mensch war oder weil sie diesen schmutzigen Spiegel als "gut zu gebrauchen" beschreiben würde, aber sie hatte das Stück seit dem Moment gemocht, als sie es zum ersten Mal in die Hände bekam... Mit dem Vier-Stunden-Schlaf schienen die unverkennbaren Augenringen noch dunkler geworden zu sein. Sie sah für eine Frau zu müde aus. Aber nicht für eine Mutter.
    »Guten Morgen«, murmelte sie summend und schenkte sich ein Lächeln. Sie nahm langsam ihr dickes, braunes Haargummi ab und die Haare fielen fast bis zu ihrer Taille. Hartnäckig versuchte sie mit dem Kamm die klebrigen Knoten auseinanderzutrennen, mit der Konsequenz, dass sie leise vor Schmerz heulen musste. Die Haare zu einem Pferdeschwanz ordentlich und hochgesteckt schlappte sie in die Küche und kochte eine Kanne Wasser für ihre Lieblingsteesorte------Der schwarze Tee. Monika war ein Buchwurm------Vielleicht lag es in den Genen, dass ihre Tochter auch eine war------weswegen sie gleich ein Buch vom Regal nahm und anfing zu lesen. Sie setzte sich auf einen Holzstuhl neben dem kleinen Esstisch. Immer ein wenig den Tee nippend genießte sie diesen Moment - ruhig, allein, mit einem Buch und die angenehmen, leisen Gezwitscher der Vögel in die Ohren drängend. Ein Moment ohne Sorgen, ohne Druck, und den Gedanken, dass man vielleicht noch etwas tun musste oder etwas vergessen hat?

Das Buchblatt fing das Licht auf und färbte sich schimmernd gold. Monika liebte solche Lichtstrahlen, weil sie so natürlich und beruhigend wirkten. Sie genoss es zu sehr, um ihren Mann hinter der Tür zu bemerken.

Raphael beobachtete seine Frau. Von hinten sah sie fast genauso aus wie vor 18 Jahren. Als sie damals an ihm vorbei gegangen war und er ihr ins Gesicht geblickt hatte, hatte er gewusst, dass sie die Richtige war. Vielleicht war er nur in sie verknallt gewesen, aber je mehr er sie kennengelernt hatte, desto mehr war er davon überzeugt. Am Anfang hatte sie ihn richtig gehasst. Er musste kurz die Lippen breit ziehen, als er sich daran erinnerte, wie sie voller Abscheu ihn angeschaut hatte, damals als er einen schlechten Streich gespielt hatte. 

Er war ein 19-jähriger Student und hatte eine Bananenschale absichtlich auf den Schulflur geworfen, um eine nervige Zicke in der Uni zu ärgern. Sie geriet in seine Falle und fiel wegen ihres hohen Absätzes auf den Boden, wobei jeder, der dabei war, sie auslachte. Ausgeflippt wollte sie Rache nehmen, wurde aber von einem anderen gestoppt. Der Junge grinste hinter einer Tür, als ein dunkler Schatten über ihm ragte. Ein Mädchen in Schwarz mit einem blassen Gesicht, die stechend blauen Augen zusammengeknifft, die Stirn zusammengefaltet und der Mund wütend geschmollt. Er zuckte zusammen und hob unwillkürlich die Hände zum Schutz gegen eine aggressive Aufwallung. 
    »Schnappe ich dich noch einmal bei solchem Unsinn, schmeiß ich dir höchstpersönlich eine Banane ins Gesicht, verstanden?«
    »Ja, Ma'am!«, sagte er unanständig.
    »Ma'am?« Auf einmal lachte sie hell auf. »Du bist der erste, der mich so nennt.« Bescheuerter Kerl! Dachte er etwa, dass ich eine Lehrerin bin? Nanu, vielleicht habe ich echt den Zeug dazu, überlegte sie sich im Gedanken.
Raphaels Baseballkappe fiel runter von seinem Kopf, ohne dass er es merkte. Nun hebte er es auf und er konnte ihren Blick einfach nicht widerstehen, obwohl er ihn so eindringend durchbohren. Er starrte verärgert und verträumt zugleich. Ein schöneres Mädchen hat er noch nie gesehen - ein so gefährlich wirkendes auch nicht. Fassungslos zwingte er sich zu einem Lächeln, das eher schüchtern als attraktiv wirkte. Sie lachte wieder, diesmal als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, und ließ ihn wortlos allein, während er in seine Tagesträume schwebte, bevor er fragen konnte, wie sie hieß.
Ein sehr schönes erstes Treffen war's nicht wirklich. Aber er musste sich danken, diesen dummen Vorfall begangen zu haben...

Er beobachtete still, wie sie das Buch auf einmal zuschlug und zum Fenster auf der anderen Seite des Zimmers ging. Und wartete.

Monika drehte sich abrupt um. »Warum hast du nicht geklopft?«
    »Ich dachte... Ich dachte ich würde dich beim Lesen stören...«
    »Das hast du trotzdem gerade getan«, erwiderte sie ernst. Dann zeigte sie wieder ihr mysteröses Lächeln. So plötzlich wie es erschien, war es auch wieder weg. Es wirkte friedlich, aber irgendwie hatte Raphael dabei immer das Gefühl, dass sie etwas vor ihm verbarg. Er ließ sie nicht aus dem Auge. Sie blickte zurück.
    »Schatz... Ich habe ein komisches Gefühl...« Sie kam einen Schritt näher und blickte auf den Boden. »Als ob ich... ein Teil von mir gerade verschwunden ist... Einfach weg.« Sie hob den Kopf und Raphael fand Sorge und Angst in dem dunklen Blau in ihren Augen.
    »Ist alles ok?« Er guckte verwirrt. »Hast du vielleicht Feber? Wenn es schlimm ist, sollen wir jetzt zum Krankenhaus fahren.«
    »Nein es ist nur... Ich glaube etwas Furchtbares ist passiert, aber ich weiß nicht was.«

Plötzlich erinnerte Raphael sich an ein merkwürdiges Ereignis. Vor 6 Jahren hatte Monika eines Tages plötzlich Stiche im Brustbereich und musste zum Arzt, der keine Erklärung dafür gefunden hatte. Zwei Tagen später war ihre Großmutter gestorben, an einem Herzinfarkt. Der Schmerz im Körper verschwand erst nach Monaten, als Monika zum ersten Mal ihr Grab besuchte. Seine Frau schien irgendwie mit ihren Liebsten verbunden zu sein. Kann es sein, dass der Tod wieder jemand von ihnen wegnehmen wird?!

    »Und ich habe jetzt Kopfschmerzen und es wird immer schlimmer!«, schrie Monika. Unbekannte Stimmen hallten in ihrem Kopf und flüsterten ihr bedrohlich klingende Worte zu. Ihre Pupillen vergrößerten sich------sie drückte ihre Hände fest an den Schädel mit lautem Schreien und unter Tränen. 
    »Geh Clarissa suchen! « Sie weinte laut. »SOFORT!«

Raphael rannte vor Schreck die Treppe nach oben. Fast hatte er den Eindruck, dass Monika nicht mehr sie selbst war. Mit dem Gedanke eilte er noch schneller zu Clarissas Zimmer und... er stoppte abrupt. Im selben Moment konnte er Monikas Geschrei nicht mehr hören. Seine Tochter war nicht da. Clarissa war weg. Einfach WEG! Es war das Unerwarteste, das ihm je passiert ist, weil sie immer brav gewesen war und niemals von zu Hause weglaufen würde, es sei denn, sie wurde von jemandem gezwungen. Sie war also entführt. Das Wort blieb groß geschrieben in seinem Geiste und vergrößerte sich mit jedem Herzschlag.

Er fand, wieder auf dem Erdgeschoss, Monika still auf dem Boden knien. Immer noch bedeckten Tränen ihr Gesicht.
    »Wo ist sie?«fragte sie kraftlos.
Raphael glaubte, sie hat die Antwort schon gewusst. »Sie ist weg. Ich weiß nicht, wo.«
Monika rührte sich nicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sie ihren Mund. Zuerst brachte sie nichts raus. Dann erschütterte ihre Stimme das ganze Haus. »NEINNNNNNNNN!«

Raphael schwor, dass seine Ohren beinahe taub wurden. Monika stürzte mit einem dumpfen Krach auf den Boden zusammen. Minuten lang saß er da mit ihr in den Armen und wagte sich nicht vorzustellen, wie es gerade Clarissa ging. Sie hätte überall sein können, sie hätte tot sein können. Und er würde lieber sterben, als das passieren zu lassen. Obwohl er immer der Gewinner im Leben war, in diesem Moment war alles für ihn verloren.

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