Intro

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Bitte schalten Sie Ihre Mobilgeräte aus oder in den Flugmodus, schnallen Sie sich an und bringen Ihre Sitze in die ursprüngliche Position. Wir starten in wenigen Sekunden. Sie sind hier in der ersten Reihe gelandet, mit bester Aussicht und genug Beinfreiheit. Wäre da nur nicht diese zermürbende, dauerhafte Kälte, der graue, verhangene Himmel ähnelt eher dem Asphalt unter den Füßen und die Leute um Sie herum wirken alles andere als... vertrauenerweckend. Engen Sie ein, rempeln, stoßen, mit verstümmelten Gliedmaßen und die Lunch Box besteht aus noch blutigem Fleisch, bei welchem es einem den Magen umdreht.
Herzlich Willkommen beim Weltuntergang.

„Wach auf", rüttle ich das zusammen gerollte Bündel am Boden, sanft aber bestimmt. Es ist kurz davor hell zu werden, falls man das als hell bezeichnen kann und leise knistert das Plastik, als er die Plane, welche als provisorische Decke gedient hat, zur Seite schiebt. Die Nase läuft immer noch, ist gerötet und die braunen Augen blinzeln verschlafen, als er mich schweigend ansieht.
„Wir müssen weiter", flüstere ich und packe weiter die wenigen Habseligkeiten zusammen, welche wir haben. Es ist entsetzlich kalt, vor allem nachts und in dieser Nacht musste ich wieder wach bleiben.

Nur langsam richtet sich der Junge auf. Ich schätze ihn auf maximal 10, aber durch den vielen Schmutz im Gesicht ist das schwer zu beurteilen. Er könnte auch jünger sein. Er sieht so schrecklich mitleiderregend aus, dass ich ihn am liebsten in den Arm nehmen würde, stattdessen hieve ich den schweren Rucksack auf meinen Rücken, ziehe den kleinen Mann auf die Beine, klopfe ihm den Schmutz, soweit es geht, von dem eh dreckigen Anorak und bin mir der Nutzlosigkeit dieser Geste absolut bewusst.

Eine zweite Schicht Handschuhe wird ihm über die kleinen Hände gezogen, die alte Wollmütze tiefer ins Gesicht gezogen, fest unten zusammen gebunden, sodass auch seine Ohren warm bleiben und auch die Mütze des Anoraks kommt darüber. Wir haben in einem ausgebrannten, verwüsteten Fabrikgebäude geschlafen, es ist wärmer als draußen, der dicke, alte Teppich wurde anscheinend vergessen, ist aber besser als auf dem Boden zu schlafen.
Wegen den Motorengeräuschen, die ich erst am Vortag gehört hatte, habe ich die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Es hat uns aber anscheinend niemand bemerkt und ich möchte auch, dass das so bleibt, weswegen wir uns noch vor Sonnenaufgang aufmachen und einigen Abstand gewinnen sollten.

Ich selbst ziehe mir nun die Wollmütze wieder auf, schiebe die verfilzten, einst hellbraunen Haare darunter und doch wird es bei mir dabei bleiben. Trotz der Kälte muss ich alles hören, die zwei Paar Handschuhe reichen eigentlich nicht und meine Füße sind dauerhaft kalt. Meinen kleinen Zehen am rechten Fuß spüre ich nicht mehr, mache mir aber mehr Sorgen um den Jungen.
Auch dieser bekommt einen Rucksack geschultert, nicht wirklich schwer, mit den Schlafsäcken. Wir reisen leicht, damit wir schnellstmöglich los können und vor allem rennen.

Nie hätte ich früher angenommen, dass ich einmal so sportlich sein könnte, nie hätte ich auch nur angenommen, dass das alles wirklich und ausgerechnet mir passieren könnte. Unsicher nehme ich ihn an der Hand, es fühlt sich immer noch falsch an, aber ich empfinde es als noch schlimmer sie nicht zu nehmen. Der Kleine ist genauso verloren wie ich in dieser Welt, zumindest den kümmerlichen Überresten davon.
So leise es geht verlassen wir den Raum, steigen über Geröll und Schutt, laufen um große Löcher im Boden und verschwinden wieder durch den schmalen Durchgang. Die Wand ist an dieser Stelle eingebrochen und lange Eisenstangen Ragen aus dieser heraus.

Grau in Grau liegt die Welt da, eine dunkle Wolkendecke hält sich am Himmel und ich kann mir nicht einmal mehr vorstellen, wie die Sonne aussieht, weiß nur, dass ich mich nach dem Gefühl ihrer Wärme auf der Haut sehne. So ungemein, dass es wehtut.
Blinzelnd sehe ich mich um, ziehe ihm das Halstuch über Nase und Mund, als Schutz vor der kalten, aber auch smoghaltigen Luft. Als sei sie mit uns zusammen auf der Erde gefangen, abgeschirmt vom Rest des Universums.

Kratzen am HimmelsrandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt