8

41 9 9
                                    

Die nächsten Tage verliefen friedlich, so viel angenehmer als die Wochen zuvor, in denen ich mit einem mir fremden Kind auf dem Boden geschlafen habe, wir uns mit Ratten und Ungeziefer um dunkle Ecken prügelten und hofften, dass die Autos immerzu vorbei fuhren, dass uns einfach niemand bemerkte und wir vor allem auch nicht elendig erfroren. Es war beinahe wie Erholungsurlaub am Bodensee, den man gezwungenermaßen mit seinen Eltern machen musste oder Kur im Schwarzwald mit der Oma und ja, so in etwa waren meine Eltern auch drauf gewesen und natürlich Urlaub an der Nordsee. Nein, man konnte nicht einfach die fünf Stunden rüber nach Italien ans Meer düsen, man musste neun Stunden lang an die Nordsee fahren und dort war es arschkalt.

Mittlerweile war es sicherlich sogar noch kälter und Holland vielleicht schon untergegangen, obwohl das durch die wenigen Regenfälle und die Tatsache, dass die Gletscher ja doch nicht schmolzen, noch nicht, etwas unsicher schien. Am Ende gibt es Holland noch in hunderten von Jahren, bloß keine wirkliche Zivilisation oder Vegetation mehr auf der Erde. Die einzigen Tiere, welche sich neben uns wirklich gut hielten waren Insekten, Maden, Käfer, dann Ratten und ich schätze auch Tintenfische.
Ja, das kommt aus einer dieser Dokus, in welcher sie meinten, dass die Eiszeit Kopffüßler und Kakerlaken überleben. Aber es wäre ja möglich, dort sind auch Tintenfische so groß wie Elefanten durch die Urwälder gestakst und all sowas, war schon ziemlich interessant, wenn ich nur noch wüsste, wie die Doku hieß. Bringt mir aber eh nichts, da es ja keinen Strom gibt.

„Siehst du, das da sind die wilden Kerle und das ist ihr König", lese ich dem Kind, welches alle halbe Stunde ein neues Buch bringt, nun eines meiner liebsten Kinderbücher vor. Dort wo die wilden Kerle wohnen, ja, ich saß alleine im Kino und hab geheult, habe ich bei Les Miserables auch... den ganzen Film durch und ich war drei Mal darin. Das kommt davon wenn einer der Klienten Kinobetreiber ist, ich hätte doch Kritiker werden sollen, haben mir viele empfohlen. Stattdessen bin ich heute Babysitter, für ein kleines Baby, das man einfach mit Büchern in Schach halten kann und mit einem größeren, bockigen Baby, das alle paar Minuten zornt.

Daren und Tomis durchsuchen den Supermarkt und die umstehenden Häuser. Bereits am folgenden Tag hatten wir uns erneut aufgemacht und die ersten Häuser abgeklappert, ich habe ein Fahrrad gefunden, mit Kinderanhänger, in welchen wir alle Konserven und Klamotten luden, vor allem auch Kleidung für den Knirps war wichtig. Nur hat sich das alles als wesentlich Zeitaufwendiger heraus gestellt, als wir erst dachten und wir somit nicht mehr als vier Häuser an einem Tag geschafft haben. Selbst Shannon darf mit, jeden Tag muss jemand anderes Babysitten und nachdem unser Heiliger am heutigen Tag drei Mal beschlossen hat, dass er zu dem Wrack geht, habe ich ihm irgendwann gedroht ihn festzubinden oder ihm das verfluchte Bein einfach abzuhacken.

Es hat einigermaßen gewirkt, seitdem sitzt er beleidigt auf dem Sofa, liest oder starrt mich trotzig an.
Sein Fuß verheilt und das Fieber geht zurück, woran ich das merke, ohne alle halbe Stunde nachzusehen oder ihm prüfend eine Hand auf die Stirn zu legen, nun ja, er wird zum Ekel. Ich hatte ja gedacht, dass das Ekel der ältere Bruder sei, ja, wirklich, das war meine Annahme, aber seitdem es unserer kleinen Rotznase wieder besser geht, dem Erlöser, wird Daren immer netter. Dagegen wird der Jesusverschnitt anstrengend, weil er kann sich ja langsam wieder wehren und allein aufs Töpfchen, außerdem nervt es ihn, wenn man ihm die Hand auf die Stirn legt und er hat irgendwie seine Tage.

Wahrscheinlich geht es ihm einfach dreckig, er beschwert sich nicht über seinen Fuß, humpelt aber durch die Gegend, auf den Krücken, die wir in einem Haus gefunden haben. Alt, verstaubt und auf dem Dachboden, ja, ich habe fast geschrien, auch wenn da nichts passiert ist, aber es ist einfach ein klischeehafter Dachboden aus den ganzen Horrorfilmen. Es muss einfach tierisch schmerzen, wir reduzieren auch die Schmerzmittel, damit er wenigstens richtig anwesend ist, auch wenn er sie offensichtlich nicht richtig verträgt und die meisten Mahlzeiten wieder hochwürgt. Was total gut ist, wenn man versucht jemanden aufzupeppeln und gleichzeitig eine Schmerzmittelabhängigkeit vermeiden möchte.

Er tut mir Leid, meine Sympathie hält sich immer mehr in Grenzen, da der Herr einfach anstrengend wird. Kaum dass die zwei Jungs wieder weg sind ist er davon überzeugt, dass er zu diesem dämlichen Flugzeugabsturz muss. Nachts steht er auf, krüppelt mit den Krücken durch die Gegend und immerzu zerre ich ihn zurück ins Bett, wobei sein Vorsprung immer größer wird, da er ja offensichtlich wieder besser auf den Beinen ist. Meinem Fuß geht es langsam auch besser, danke der Nachfrage. Ich habe ihn gut bandagiert, sodass er gestützt wird, laufe nur wenn es nötig ist und jage dann den Jesus zurück in seine Höhle. Wir brauchen einen großen Stein, den könnte man davor rollen.

Eben dieser steht gerade wieder auf, ich seufze genervt, sehe ihn über den Buchrand hinweg an und sein böser Blick zurück ist meinem tatsächlich ebenbürtig. „Ich geh nur pissen", meckert er, aber ich glaube ihm das nicht.
„Das Klo liegt rechts, nicht links", rufe ich ihm nach, als er natürlich Richtung Haustür krüppelt, nichts gegen Krüppel nebenbei erwähnt. Unser Erlöser, der gerade anscheinend seine Dornenkrone in den Arsch geschoben bekommen hat, schnaubt abfällig und hält inne, sodass ich etwa die Hälfte von ihm noch erspähen kann.

„Jarck, du schaffst es da nicht hin. Deine Wunde geht auf, dann rutscht du schön mit der... ach wie heißt das noch mal", belehre ich ihn und der kommt ein Stück zurück, lehnt sich in den Türrahmen, mit der Stirn gegen den Rahmen, was äußerst elegant aussieht und auch sehr intellektuell wirkt.
„Krücken", erinnert er mich an das zuvor gesucht Wort, welches ich eh in den nächsten Minuten wieder vergesse.
„Genau, den Krücken. Du rutscht aus und dann liegst du da, ja und ich heb dich nicht auf, wirst erfrieren oder verbluten oder gegessen", ziehe ich die Augenbrauen hoch, er verzieht irgendwie wehmütig das Gesicht, seufzt und sieht noch einmal zur Tür.

„Ich weiß nicht was du dort willst...", beginne ich und er gibt bereits so einen Laut von sich, um mich wieder zu unterbrechen: „JAHA, es geht mich auch nichts an, aber das bringt nichts, nicht so." Er grummelt, schnappt sich die Krücken und humpelt an dem Durchgang vorbei zur Treppe: „Schaffst du das alleine?", kann ich es mir einfach nicht nehmen lassen.
Er flucht laut vernehmlich: „Verdammt, ich kann ja wohl noch ohne Hilfe kacken gehen, Weib", liebevoll, so sind die Männer. „Ich könnte dir deinen klapprigen Hintern auch abwischen, Schatz", kommentiere ich sofort und dann hörte man es etwas Rumpeln.

Er flucht, also war das wohl nicht unser Auferstandener, der da die Treppe hinab gefallen ist, viel mehr eine der Krücken. Ich stehe auf, folge dem Knirps zum Gang, welcher bereits voraus gelaufen ist und nun neugierig dasteht. Dem Kind hat dieser Stopp am besten getan, also psychisch, auch wenn er nicht spricht, nicht lacht oder sonst etwas wirkt er anwesender. Am Vortag hat er selbstständig den Tisch gedeckt, ohne dass man ihn extra fragen musste und ja, das beruhigt mich.
Da geht mein mütterliches Herz auf, auch wenn ich nie Mutter war und wahrscheinlich auch nie werde, war eh nie so der Typ dazu.

„Das ist aber schon etwas schwierig, wenn man eine Krücke da unten hat und nur auf der Hälfte der Treppe ist. Ich würde ja beide benutzen", stehe ich da und stelle mich bewusst blöd, während er auf einem Fuß versucht des Gleichgewicht zu halten, sich auch am Geländer abstützt und hinab auf diese freiheitsliebende Krücke sieht, die den Moment genutzt und sich losgerissen hat.
Hopsend denkt er über seine Position nach, lacht bösartig hinab: „Ha ha ha", über meinen wirklichen Knüllerwitz. „Weißt du, vielleicht ist dein Humor nach den 2000 Jahren etwas eingestaubt", bin ich sogar so etwas wie versucht ihm zu helfen, lasse es aber noch.

Er soll etwas leiden, was er eh schon genug tut, die Zähne zusammen beißt, den Fuß bloß nicht belastet und tatsächlich mitleidserregend aussieht. „Hast du deine Tropfen genommen?", frage ich ihn direkt und er nickt. „Wann zuletzt?", hake ich weiter nach, ich bin echt zum Babysitter verkommen, einer der Berufe den ich nie machen wollte. Ja, ok, gut, mein Job war schon so etwas wie ein Babysitter, teilweise auch Psychologin, aber ich bin auch gut dafür bezahlt worden.
„Fünf Stunden", murmelt er, schätzt es in etwa und ich seufze. Er sollte es erst am Abend wieder nehmen, während dessen wackelt er, kippt beinahe um und hält sich weiter an dem Geländer fest. Vielleicht geb ich ihm vor dem Schlafen die doppelte Dosis, dann ist er wenigstens ausgeknockt und ich bekomme etwas Schlaf.

„Wärst du vielleicht mal so freundlich mir zu helfen", meckert er und hört sich doch recht zickig an. Von wegen Männer haben keine Tage, wieso sind die dann einmal im Monat so? „Ach, jetzt bin ich dem Herrn wieder fein genug", strecke ich ihm die Zunge heraus und er schnaubt belustigt, auch wenn er um die Nase immer bleicher wird. Sollte langsam mal etwas tun, sonst kippt er noch um.
Allerdings bin es nicht ich, die sich in Bewegung setzt, sondern der Knirps oder Tyler, wie er ihn seit kurzem nennt, nach Tyler Durden. Ja ich erinnere mich an die erste Regel und fahre nicht fort.
Der läuft los, holt die Krücke und hüpft die einzelnen Stufen hinauf, um sie dann Jack zu geben. Das ist es nicht, was mich und ihn gänzlich aus dem Konzept bringt und uns tatsächlich etwas die Worte ausgehen.

Nein. Er lächelt. Er grinst über das ganze Gesicht, wirkt fröhlich, als fände er das alles lustig, was ja unsere Streitgespräch auch sind und Tomis uns liebevoll als altes Ehepaar betitelt oder die zwei Alten von den Muppets. Der kleine Mann strahlt vor sich hin, gibt dem sprachlosen Jack seine Krücke, der sich stockend bedankt und läuft wieder die Stufen hinab, zu mir, um mich an der Hand zurück ins Wohnzimmer und zum Buch zu ziehen. Ich aber kann mich erst gar nicht rühren, sehe das Kind an, Jack fragend, etwas hilfesuchend, aber der zuckt mit den Schultern und lächelt dann erleichtert.
„Du.... Du willst das Buch weiter lesen?", frage ich den kleinen Mann, folge ihm und bin beinahe enttäuscht, als ich keine Antwort, nicht einmal ein Nicken bekomme.

Kleine Schritte, ja ja, ich weiß.


Kratzen am HimmelsrandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt