Kapitel 1

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Vancouver, 1875

"Lauren?!"
Tante Rachel stand am Treppengeländer von Orkenslope, in Blickrichtung auf die obere Ebene des Hauses, von wo sie sich fragte, was ihre Nichte wohl treiben würde, während sie sich ihre Hände an ihrer Schürze trocken rieb, welche wohl möglich schon bald eine Wäsche gebrauchen könnte. Ein Blick auf einzelne Flecken genügte. Nun, dann wüsste sie den morgigen Tag zu verbringen.
Ihre Standfestigkeit war ein Zeichen dafür, dass sie eine Antwort ihrer Nichte erwartete.
Erschrocken riss Lauren ihre rosenbesetzte Bettdecke von sich, streckte sich nur nebensächlich und setzte sich an den Bettrand, damit beschäftigt, aus ihren Augen auch die letzte Spur von Schlaf zu vertreiben, welcher ihr eben noch angenehm und nun zuwider vorkam.
"Ich komme gleich!"
Nebensächlich versicherte sie ihrer Tante, dass alles beim besten wäre, was ein Blick auf ihre Uhr jedoch nicht bezeugen konnte. Jedenfalls hörte sie die Schritte ihrer zufriedengestellten Tante, welche ihr Versicherten, dass sie aus dem Eingangsbereich in die Küche gegangen war, um dort auf sie mit dem Frühstück zu warten. Eine halbe Stunde einzuholen, schien ihr unmöglich. "Doch lieber nicht daran denken, sondern beeilen!", waren ihre anspornenden Worte im Gedächtnis, die sie verfolgten. Mit zuvor eilenden Händen wusch Lauren in der Waschschüssel auf ihrer Kommode, ihr Gesicht und trocknete es mit dem danebenliegendem, schneeweißen Tuch, während ihre Augen schon weiter dachten, ihre Haare zu frisieren. Ein Blick in den Spiegel zeigte ein wirr-warr von braunen Haaren. Schnell sie mit einer Bürste zu kämmen, würde also leider nicht genügen. Gekonnt bewahrte Lauren in diesem Augenblick Ruhe und frisierte dann ihre Haare in einer Rekordzeit, die sie zu ihrer Besten zählen konnte. Ein ordentlicher Knoten am hinteren Kopfende konnte sich nun einmal blicken lassen. Doch dafür konnte auch kein Talent gefragt sein. Zuallerletzt streifte sich Lauren ihr, in rosé Farben gehaltenes Kleid über, bei dessen Anblick sie sich schon vor Tagen gewünscht hatte, es wäre der Collegeabschluss und Sie könne ihr Zeugnis in Händen halten können. Und heute war es soweit. Der heutige Tag sollte beweisen, dass sich die letzten Jahre bewährt hatten.
Doch deshalb blieb keine Zeit, in Gedanken zu schwelgen. Auch wenn es als eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen galt. In Gedanken schwelgen und zu träumen. Lauren konnte dabei sein, als Amerika entdeckt wurde, als die ersten Siedler in das Land gedrungen waren oder sich auch in Form eines Schmetterlings verwandeln, die Welt der Lüfte kennen lernen und dem strahlend blauen Himmel entgegen flattern. Doch zu viel verschwendete Gedanken und Zeit. Ein letzter Blick in den Spiegel, doch etwas fehlte...
Lauren entnahm ihrem Schmuckkästchen eine Medaillon, in dem das Bild einer hübschen, jungen Frau zu sehen war, wenn man es mit seinem Mechanismus öffnete. Auch wenn sie sie nie gekannt hatte, liebte Lauren diese Frau. Ihre Mutter.
Zuletzt richtete Lauren mit gekonnten Handbewegungen ihre Bettdecke zurecht und schüttelte ihr Kissen ein letztes Mal. Ihre verbliebene Zeit füllte Lauren mit einem Gebet aus, um mit ihrem Gott den Tag zu beginnen.

Herr, Danke dir für diesen neuen Tag und alles was er bringen wird, wenn ich heute bei dem Collegeabschluss sein werde und Tante Rachel hier auf Orkenslope. Bewahre uns und halte deine schützende Hand über uns,
Amen.

Nach ihrem, etwas kurz ausgefallenem Gebet, stand Lauren auf, strich unsichtbare Falten aus ihrem Kleid glatt und ließ ihr Zimmer leer hinter sich zurück und stieg die Treppe hinab, um ihrer Tante einen guten Morgen zu wünschen. "Guten Morgen, Lauren!"
"Guten Morgen Tante Rachel!", gab auch Lauren, wenn auch etwas erschöpft, während sie sich einen Stuhl, der an dem Tisch angelehnt stand, heranzog und sich auf ihn setzte, um wenigstens einmal an diesem Morgen, Ruhe zu finden. 
"Du hast verschlafen, wie?", nahm ihre Tante an, während sie über ihre Schulter vom Herd aus, Lauren's Blick suchte, welche  darauf an einem leichten Lächeln annahm. Eine Erklärung war bei Tante Rachel nicht von Nöten. "Hab's ja gleich gewusst, als ich dich nicht gehört habe. Aber ist ja jetzt nicht schlimm. Bist' ja jetzt an Ort und Stelle und wir können mit dem Frühstück anfangen", meinte Tante Rachel, sprach ein Tischgebet und beide konnten endgültig beginnen. Porridge. Eines der Dinge, die Lauren am liebsten zum Frühstück zu sich nahm. Verziert mit kleinen Apfelstücken, und es gab ein leckeres Dessert her. Dazu, den berüchtigten Kaffee ihrer Tante, um den sie die ganze Nachbarschaft beneidete. Wenn man von Tante Rachel's Kirschkuchen absah...
Ein weiterer Punkt, warum die meisten Damen des Ortes sehnsüchtig auf eine Einladung, zum Tee auf Orkenslope warteten. Doch das lag nicht nur an den Vorraussichten an ein gut schmeckendes Dessert, sondern auch an Tante Rachel's herzliche und gutmütige Art, die jeden Gast gut zu bewirten wusste.
Tante und Nichte löffelten also den dick flüssigen Brei aus Hafer, ließen es sich schmecken und Lauren wunderte sich, wie schon so oft, auf welche Weise Porridge nur so schmackhaft sein konnte, auch wenn die Hauptbestandteile aus Haferflocken waren, die trocken nicht als gut schmeckend galten, laut Lauren.
"Und, freust du dich schon?", fragte Tante Rachel, während sie mit ihrem Löffel ihren Porridge in ihrer Schüssel wendete und Lauren, mit ihrer Frage aus ihrer Gedankenwelt brachte.
"Oh ja! Aber andererseits bin ich auch aufgeregt und auch traurig, denn viele werde ich vielleicht garnicht mehr sehen." "Das ist natürlich schade. Du meinst, sie werden in die Stadt oder zu ihren Familien ziehen, hm?"
Tante Rachel nahm einen weiteren Schluck ihres Kaffees.
Lauren nickte nur.
"Aber du hast dann ja noch immer deine Freunde hier, aus dem Ort."
Ein Lächeln war die Antwort. "Du hast recht, Tante Rachel. Wie fast immer."
Ein Lachen ging über Tante Rachel's Lippen.
Ein dreimaliges Klopfen an der Haustür von Orkenslope riss beide aus ihr Gespräch. "Das muss sicherlich Kate sein!" Mit diesen Worten sprang Lauren auf. Sie wusch schnell ihre Hände in der Waschschüssel auf der Küchenablage und trocknete diese, während sie auf die Tür zuging, an einem gestärktem Tuch.
"Hallo Kate! Komm doch herein!", bot Tante Rachel von ihrem Platz auf dem Küchenstuhl an, während sie ihren Blick den Gang entlang gleiten ließ, um Kate zu erblicken, woraufhin diese, mit der Erklärung dankend ablehnte, dass sie nur gekommen sei, um Lauren mit dem Einspänner abzuholen. Lauren nickte nur, verabschiedete sich von ihrer Tante, und streifte sich, auf Anweisung dieser, ihr Cape über, dessen Fasern der Wolle, ihre Haut leicht kitzelten.

 LaurenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt