Snowdrift, Kanada 17.10 Mi
"Oh mein Gott." Der Schrei verlässt meinen Mund und huscht über die Lichtung, die abgesehen vom Rauschen der Baumwipfel völlig ruhig ist.
Ich klammere mich an Kals Arm und wage mich nicht zu rühren. "Was machen wir jetzt?" Flüstere ich und versuche mich daran zu erinnern, was in Ratgebern für Begegnungen mit wilden Tieren steht. In der Schule habe ich vielleicht mal vor Ewigkeiten etwas darüber gelernt.Man soll sich groß machen und die Jacke ausbreiten um den furchteinößenden Effekt zu verstärken. Keine auffälligen Bewegungen. Aber in mir schreit gerade alles danach wegzulaufen. So schnell ich kann.
Trotzdem zwinge ich mich stehen zu bleiben und beobachte ängstlich, wie der Wolf auf uns zukommt. Hätte ich ein Herz, wäre es schon längst stehen geblieben. Aber das dünne Phantomabbild in meiner Brust flattert schon so sehr, das ich Angst habe, es zerspringt gleich.
Kal hat sich immer noch nicht gerührt. Ist er vor Schreck erstarrt? Wie kriege ich uns so schnell wie möglich von hier weg? Mein Blick versucht gleichzeitig auf den Wolf und eine potenzielle Fluchtchance gerichtet zu sein.
"Kal." Hauche ich. "Kal!"
Der Junge vor mir regt sich jetzt endlich. "Da bist du ja." Ruft er und geht mit großen Schritten auf das Tier zu. Meinen Arm schüttelt er einfach ab. "Kal." Flüstere ich. Ist er verrückt?
Ich beobachte wie erstarrt, wie er die Hand ausstreckt und dem Wolf eine Kopfnuss gibt. Anders kann man es nicht beschreiben. Ich halte die Luft an. Der lebensmüde Typ spricht jetzt auf den Wolf ein. Ich erwarte jeden Moment auf den Angriff. Wir müssten Rennen. Vielleicht schaffen wir es auf eine Baum. Aber höchtwahrscheinlich kriegt der Wolf einen von uns beiden. Und das bin sehr wahrscheinlich ich. Kal ist schneller als ich und der Wolf ist größer als normale Tiere seiner Art.Ich erkenne ihn wieder. Das graue Fell, an einigen Stellen dunkler als an anderen, die fast schwarze Schnauze und diese Augen. Diese glühenden Augen, die mich in meinen Träumen verfolgt haben, und die das letzte sind, an das ich mich vor meiner Ohnmacht noch erinnere.
"Das kannst du ihr echt selber sagen. War das schon wieder so ein Alphatrick? Hör auf damit Mann! Ich bin dein bester Freund sowas macht man nicht." Kal starrte den riesigen Wolf grimmig an.
Ich schlucke. Was wird meine Mutter denken? Wenn sie meine Leiche im Wald finden, zerfleischt von einem Wolf und daneben die Leiche eines fremden Jungen? Sie wird nie heraus finden, dass ich mit einem verrückten in den Wald gelaufen bin und von einem wilden Tier überrascht wurde.
"Oh mein Gott. Guck sie dir an." Kal schaut in meine Richtung und versucht ein Grinsen zu unterdrücken. "Du denkst ich bin verrückt oder?" Er lacht laut auf. "Keine Angst mir gehts gut. Komm ruhig näher."
Ich beiße mir auf die Unterlippe, gehe aber trotzdem einen Schritt nach vorne. Es ist, als würde mein Körper ein eigenleben führen. Was machst du? Renn weg!
"Zahra." Sagt Kal leise. "Komm her. Ich tu dir nichts." Seine Stimme ist leise und tief und vibriert in meinem Brustkorb. Ich trete zögerlich noch einen Schritt heran. Seine Stimme wirkt leicht einlullend und ich vertraue ihm auf eine merkwürdige Art und Weise. Wie man eben einem völlig Fremden vertrauen kann, der gerade einen ausgewachsenen Riesenwolf provoziert.
Ich stolpere schnell wieder zurück. Was mache ich denn hier? Das ist gefährlich!
"Mist." Kal verzieht das Gesicht. "Für einen Moment hats geklappt." Er seufzt, "Naja. Wir- Nein Du musst ihr das jetzt sagen. Sofort. Ich hab keinen Bock mehr auf diese Scheiße."Ich sehe ihn nur stumm an. Vielleicht schaffe ich es ja doch weg zu rennen, er scheint psychisch noch labiler als ich. Er ist verrückt. Ich sehe wieder zu dem Wolf, der die ganze Zeit stumm dasteht und mich beobachtet. Ein Schauer läuft mir über den Rücken.
Plötzlich dreht er sich um und verschwindet wieder zwischen den Bäumen. "Keine Angst, er kommt gleich wieder." Sagt Kal. Ich drehe mich um und renne los.
"Wa-? Hey, halt warte!" Ich höre dumpfe Schritte hinter mir und nach wenigen Metern schließt sich eine warme Hand um mein Handgelenk.
"Zahra warte." Ich versuche mich los zu reißen."Nein, lass mich los." Rufe ich und hoffe, dass mich jemand hört. "Lass mich los!"
"Zahra bitte." Er klingt ganz ruhig, hält mich weiterhin fest. "Bitte, ich verspreche dir, du wirst es verstehen aber du musst es uns erklären lassen. Bitte."Seine Stimme ist wieder so weich und vertrauenswürdig und ich lasse mich einwickeln und folge ihm zurück zur Lichtung. Der Wolf ist immee noch verschwunden.
"Komm hier her." Sagt Kal leise und zieht mich an seine Seite. Ich lasse es zu, halte trotzdem eine kleine Lücke zwischen uns.
Im nächsten Moment rascheln die Zweige und jemand tritt daraus hervor. Kal zieht mich näher. Ich bebe.
Ein zweiter Junge tritt in mein Blickfeld. Er ist komplett schwarz angezogen. Sein T-shirt spannt über seine Bauchmuskeln. Seine Haare sind grau. Und schwarz. So, wie das Fell des Wolfs. Es ist verrückt aber es sieht völlig natürlich und normal aus. Ich schlucke hart als ich seinem Blick begegne. Diese Augen fressen sich mit leuchtendem Blick in meinen Körper hinein und scheinen mich komplett zu durchdringen.
Er ist blass und seine hohen Wangenknochen und die vollen perfekten Lippen lassen ihn fast engelsgleich erscheinen. Wäre da nicht diese Aura von Gefahr, die ihn umgibt.
Er öffnet seine perfekten Lippen. Eine weiße Atemwolke schwebt in die kühle Winterluft und verflüchtigt sich dann langsam.
"Bringen wir sie um."
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Schneewittchen
Teen FictionAls Zahra nach dem Tod ihres Freundes in Depressionen verfällt, beschließen ihre Eltern und ihre Therapeutin über ihren Kopf hinweg, dass ein Standortwechsel das beste für sie ist. Kurz darauf findet sie sich im eiskaltem Kanada wieder. Noch schlimm...