1. Kapitel

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Das Schrillen unseres alten Telefons ließ Henry und mich beinahe gleichzeitig zusammenzucken.
"Egal, was sie sagt, sie lügt!", sagte ich einen Herzschlag nachdem der nervtötende Laut eingesetzt hatte. Henry zog die Augenbrauen hoch und musterte prüfend, wie ich auf dem abgewetzten Ledersofa lümmelte, dann seufzte er und erhob sich von seinem nicht weniger verunstalteten Sessel.
"Ach ja?", brummte er müde, während er zum Telefon schlurfte, um unsere armen Ohren zu erlösen. "Henry Winter, Hallo?"
Ich verdrehte die Augen und verzog mich dezent aus dem Wohnzimmer.

Kaum war ich in meinem kleinen Reich angekommen, riss ich das Fenster auf und setzte mich aufs Fensterbrett. Kühle, schmutzige Luft strömte in meine Lunge, während ich nach draußen kletterte. Der Vorsprung war zwar schmal, doch ich ging das Risiko zu fallen gerne ein. Es war nur ein geringer Preis für die Freiheit, die ich hier hatte.

Wenig später saß ich auf meinem Lieblingsplatz zwei Meter unter meinem Fenster und beobachtete die letzten schwindenden Sonnenstrahlen. Ich liebte den Anblick über Berlin, wenn der Tag von der Dunkelheit der Nacht vertrieben wurde. Wenn es nicht hell war, fühlte ich mich geschützter, unbeobachtet. So konnte ich leben, wie ich war.

"Alice!" Oh, oh, er rief mich bei meinem vollen Namen. Ich reagierte nicht. Henry wusste doch, wo ich war, auch wenn er dadurch immer einen Herzinfarkt bekam.

"Lizzie!", rief er, diesmal war seine Stimme direkt über mir. Ich hob gelangweilt den Kopf. "Was?"

"Komm hoch, Kind! Das ist gefährlich, das weißt du doch!"

Ich reagierte nicht auf seine Sorgen. "Was willst du?", brummte ich stattdessen.

Henry holte tief Luft, um sich zu sammeln. "Deine Lehrerin hat angerufen", erklärte er anschließend ruhig.

"Ich weiß", erwiderte ich patzig und spannte mich an. "Und ich habe dir doch gesagt, dass sie lügt."

"Verdammt... Du musst dich in der Schule wirklich mal zusammenreißen. So geht das nicht weiter, du... LIZZIE!"

Ich hatte genug von seinem Gerede, deswegen war ich aufgestanden und balancierte kurzerhand zur Regenrinne, an der ich vorsichtig nach unten kletterte. Das tat ich oft, ich hatte Training und war dankbar für die vielen Vorsprünge und eingefasste Schnörkel, die in unserer Hauswand prangten. Zum Glück war ich schwindelfrei und war früher regelmäßig klettern gegangen.

Endlich stand ich auf dem nassen Asphalt und klopfte meine Hände ab. Meine hässlichen Crocs waren zwar nicht die perfekten Schuhe für Berlins hintere Gassen, aber als Notlösung durchaus annehmbar.

Henry beobachtete mich von oben, ich konnte seinen Blick beinahe spüren. Aber ich zwang mich, ihn nicht anzusehen und lief planlos in die angenehme Dunkelheit der Häuser.

Sofort schluckte mich die Kälte der Nacht. Es brannten zwar noch Lichter hinter den Fenstern der Hochhäuser, aber fast jeder hatte seine Vorhänge zugezogen; wer wollte schon dauernd die trostlosen Straßen mit den verwahrlosten Obdachlosen beobachten müssen?

Ich kramte in meiner Tasche nach Geld und warf ein paar Münzen in den zerfledderten Pappbecher eines schlafenden Penners. Sollte er sich dafür ein bisschen Alk kaufen können.

Langsam griff die Kälte meinen Körper an, ich hatte keine Jacke dabei, sondern trug noch immer Jogginghose und schlabberiges Schlafshirt.

Meine Zähne schlugen aufeinander und das Geräusch hallte als Echo von den schwarzen Wänden wider. Aber vielleicht bildete ich mir das nur ein.

Ich bemerkte gar nicht, wie meine Füße mich weitertrugen und vor allem nicht, wohin. Aber ich spürte den Asphalt unter meinen Sohlen und sah die vorbeiziehenden Graffitis der Häuser.

Ich verlor jegliches Zeitgefühl, spürte nur noch kalt und dunkel.

Aber ich genoss es.

Das war Freiheit, die mir niemand nehmen konnte.

Als ich wieder aufsah, merkte ich, dass ich bis in die dunkelsten Gassen Berlins vorgedrungen war. Hier war ich nicht oft, denn die Wege waren so verschlungen, dass es schwer war, sich zu orientieren.

Langsam war die Gänsehaut auf meinem Körper auch nicht mehr angenehm. Ich war nicht müde, da ich sowieso ein Nachtmensch war. In der Dunkelheit waren meine Sinne immer doppelt so sehr geschärft, wie ohnehin schon.

Und das war das Problem.

Ich spürte, dass mich jemand beobachtete. Ich war nicht alleine.

Ich weiß nicht, ob ich die Einzige bin, aber ich spüre, wann jemand in meiner Gegenwart war. Menschen konnten ihre Anwesenheit nicht vor mir verbergen.

Mein Atem verschnellerte sich und ich schlang meine Arme schützend um meinen Oberkörper. "Wer ist da?", rief ich laut.

Keine Reaktion.

"Komm raus, ich weiß, dass da jemand ist. Vor mir kannst du dich nicht verstecken." Meine Stimme klang jetzt drohender.

Ich war mir nicht sicher, ob es eine Person oder mehrere waren.

Und dann hörte ich plötzlich ein Kichern.

Sofort wirbelte ich zu der Richtung herum, aus der das Geräusch kam. Meine Augen verschärften den Blick, bis ich eine schemenhafte Gestalt ausmachen konnte, die sich leicht von der Dunkelheit abhob.

In dem Moment, in dem ich meine Handy-Taschenlampe wie ein Schwert auf die Person richtete, stolperte sie nach vorne.

Es war ein Mädchen. Ihre langen, schwarzen Haare fielen glatt über ihre Schultern, die von groben Stoff bedeckt waren. Sie hatte zwar eine schöne, weibliche Figur, war aber etwas klein und blass, außerdem trug sie ziemlich abgewetzte und einfache Kleidung.

"He, lass das!", fuhr sie mich an und hob die Hände vor ihr Gesicht, um ihre Augen vor dem grellen Licht zu schützen.

Ich grinste und schaltete die Taschenlampen-Funktion aus.

"Wer bist du?", fragte ich barsch, nachdem sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

"Die Frage ist doch eher: Wer bist du und was tust du hier?", erwiderte sie herausfordernd.

Ich unterdrückte ein Kichern. Dieses Mädchen war einen Kopf kleiner als ich und wagte es, so frech zu mir zu sein. Dennoch tat ich ihr den Gefallen und antwortete: "Ich heiße Liz und gehe hier so zum Spaß spazieren."

Sie hörte scheinbar die Ironie aus meiner Stimme, denn sie schnaubte gereizt. "Nun, Liz, dann hau ganz schnell wieder ab."

"Aber gerne doch", erwiderte ich, meine Stimme triefte beinahe vor Freundlichkeit. "Nur gibt es da ein Problem. Ich weiß nicht, wo ich bin."

Das Mädchen stöhnte genervt auf. "Wo wohnst du?"

Ich nannte ihr meine Adresse.

Sie dachte kurz nach, ehe sie schroff sagte: "Gut, folge mir."

Ohne zu Zögern rannte sie an mir vorbei die Gasse entlang. Etwas verwirrt folgte ich ihr. Eigentlich wollte ich ihr nicht trauen, aber ich mochte irgendwie ihre direkte Art und außerdem - hatte ich eine andere Wahl?

Nach wenigen Minuten erreichten wir eine erhellte Straße, die ich kannte. "So, von hier aus kommst du alleine weiter", meinte sie.

Ich nickte, meine Verwirrung war mir wohl deutlich anzusehen. Das Mädchen grinste.

"Ich bin Bird", sagte sie.

Unwillkürlich musterte ich sie genauer im fahlen Licht der Laternen. Schwarzes, glattes Haar. Sehr blasse Haut. Rosa Lippen, sanfte Nase. Graue Augen mit einem dunklen Wimpernkranz.

Ja, Bird passte.

EinhornkotzeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt