8. Kapitel

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Natürlich war mir bewusst, worauf "Einkaufen ohne Geld" hinauslaufen würde: Diebstahl. Ein wenig Erfahrung hatte ich damit auch, ab und an steckte ich Dinge ein. Schuldgefühle hatte ich nicht. Ich klaute nur bei großen Händlern, die ohnehin im Geld baden konnten, beim Apfelstand einer alten Frau beispielsweise, die um ihre Existenz fürchten musste, würde ich nie etwas mitnehmen.

Es interessierte mich, wie Gabriel beim Stehlen vorging. Also überlegte ich nicht lange und nickte. "Gerne."
Er schien sich ehrlich zu freuen.
Gemeinsam schlenderten wir die Straßen hinab und führten weiter Smalltalk, bis wir um eine Ecke bogen und ein Kaufhaus vor uns auftauchte. Das Gespräch verstummte, was allerdings nicht an Gabriel lag, denn er schien im Gegensatz zu mir keinen Nervenkitzel zu verspüren. Völlig entspannt und locker ging er neben mir her zur Tür des Kaufhauses.
Bevor wir es betraten grinste er mich an und sagte: "Du bist nervös, hm? Musst du nicht sein. Aber achte bitte darauf, dass wir nicht auffliegen, sonst können wir hier nicht mehr hin."
Ich nickte verständnisvoll, schluckte meine Sorgen herunter und konzentrierte mich auf meinen Ärger, nicht genauso gelassen zu sein wie Gabriel.

Wir warteten, bis im Gang keine Menschen mehr zu sehen waren, bevor ich nach der Ketchupflasche griff ich und sie hastig unter meine Jacke schob. Gabriel hatte festgestellt, dass meine Jacke - und somit auch ich - ein überaus praktisches Hilfsmittel zum stehlen war. So konnten wir mehr mitgehen lassen als die Spaghetti, die er sich in seinen Hosenbund gesteckt und mit dem schlabberigen Shirt bedeckt hatte.

Auf dem Weg zur Kasse holte Gabriel einen Euro aus seiner Hosentasche und drehte ihn zwischen den Fingern. Auf meinen fragenden Blick hin zuckte er nur mit den Schultern und erklärte: "Wenn ich noch was billiges kaufe, fällt es weniger auf."
Er legte eine Flasche Wasser aufs Band und wir warteten, bis wir an der Reihe waren. Ich wurde immer nervöser.

"Fünfzig Cent, bitte", sagte die Kassiererin lächelnd. Gabriel lächelte freundlich zurück und reichte ihr die Münze. Als er das Rückgeld und das Wasser entgegennahm, schien es geschafft zu sein, aber auf dem Weg zur Tür passierte es.
Die Ketchupflasche rutschte aus meiner Jacke und landete auf dem Boden. Ich verfiel in eine Schockstarre. Gabriel fluchte.
Die Kassiererin handelte sofort. Sie stürzte aus ihrem Platz hinter der Kasse heraus und auf mich zu, während Gabriel mir zurief: "Nimm die scheiß Flasche und lauf!"
In dem Moment, in dem die Frau mich erreichte, löste ich mich aus meiner Starre und beugte mich blitzschnell hinab, um das Ketchup zu ergreifen, aber sie packte mich fest am Arm. Mein Körper schien schneller zu funktionieren als mein Hirn, denn bevor ich realisierte, was ich tat, hatte ich die Flasche geöffnet und spritzte der Kassiererin die Tomatensoße ins Gesicht, woraufhin sie mich erschrocken kreischend losließ.
Ich wirbelte herum und raste noch vor Gabriel aus dem Kaufhaus, der für einen kurzen Moment ebenso überrascht zu sein schien wie die Kassiererin und die anderen Kunden an der Kasse. Aber dann folgte er mir und wir sprinteten davon. Glücklicherweise verfolgte uns niemand.

Erst nach zehn Minuten waren wir weit genug entfernt, um ohne Risiko anzuhalten. Wir schlüpften in eine Seitengasse und während ich mich schwer atmend an die Hauswand lehnte und verdaute, was gerade passiert war, brach aus Gabriel ein Lachanfall heraus. Er konnte gar nicht mehr aufhören.
"Ich fasse es nicht, dass du ihr das Zeug ins Gesicht gespritzt hast", japste er, als er kurz Luft holte. "Die anderen hätten das sehen müssen!"
Ich wartete grinsend, bis er sich beruhigt hatte.
"Hier, da ist bestimmt noch genug drin", sagte ich und überreichte Gabriel die Flasche, nachdem er sich die letzten Lachtränen aus dem Augenwinkel gewischt hatte.
"Nur schade, dass ich jetzt erstmal nicht mehr dort einkaufen kann", meinte er bedauernd.
Wir schlenderten wieder in Richtung Alexanderplatz, glaubte ich zumindest, eigentlich ging ich nur neben Gabriel her.
"Und du übrigens auch nicht. Dich wird sie sicher wieder erkennen." Er warf mir einen amüsierten Seitenblick zu. Obwohl er mich vorher gebeten hatte, unauffällig zu sein und ich ein ziemlich schlechtes Gewissen hatte, schien er nicht wirklich sauer zu sein. Und ich musste zugeben, dass mir das Ganze trotz – oder gerade wegen – des Nervenkitzels Spaß gemacht hatte.

"Ich hoffe, ihr bekommt eure Sachen wieder", sagte ich ehrlich. Zwar kümmerte mich der Rest der Gang nicht, aber ich begann, Gabriel zu mögen.
Seufzend zuckte er mit den Schultern, Kummer überschattete sein Gesicht. "Ich hoffe das auch", sagte er, wirkte aber nicht sonderlich überzeugt.
Nach einer kurzen Pause erklärte er: "Aber selbst wenn wir das Zeug zurückkriegen, er wird nie aufhören, uns zu bestehlen. Wenn wir nur wüssten, wie wir uns verteidigen können oder was wir ihm getan haben. Aber er ist völlig identitätslos, wir wissen nichts von ihm. Nicht einmal seinen Namen. Nur, dass er gefährlich ist."

Ich blickte auf meine Schuhspitzen. Einerseits wollte ich unbedingt mehr von dem erfahren, was hinter der Feindseligkeit zwischen ihm und der Gang steckte, andererseits hatte ich beschlossen, mit dem Ganzen nichts mehr zu tun zu haben. Wenn ich mehr wissen wollte, musste ich mich mit der Gang auseinandersetzen und ich hasste diese Menschen, abgesehen von Gabriel. Aber vielleicht...
"Ich helfe dir beim Kochen", bot ich an. "Natürlich nur, wenn du magst. Ich glaube, wir beide können jetzt ein wenig Ablenkung gebrauchen."
Gabriel lächelte mich an und damit war die Sache beschlossen.

"Eigentlich müsste ich dir hier die Augen verbinden, damit du nicht merkst, wo wir hingehen", sagte Gabriel beiläufig, während er mich zielsicher durch Gassen führte, in denen ich mich trotz meiner jahrelangen Streifzüge nie selbst zurechtgefunden hätte. War ich wirklich in Wahrheit so unsicher?
Ich hatte mir immer eingebildet, mich in Berlin auszukennen und vor allem stark und stur zu sein, aber seit ich diese Gang kannte, stellte ich mich in Frage. Obwohl ich das natürlich niemals zugegeben hätte.
"Und warum machst du es dann nicht?", fragte ich.
Er lachte auf. "Weil die anderen jeden Moment auftauchen können und nicht wissen dürfen, dass du da bist. Du musst dann so schnell wie möglich verschwinden und daher wäre es günstig wenn du weißt, wo du überhaupt bist. Das ist mir wichtiger, als das Versteck vor dir geheim zu halten, ich glaube sowieso nicht, dass du es jemandem sagst."
Ich schmunzelte. Natürlich würde ich es niemandem sagen – wem denn auch? Es gefiel mir, dass Gabriel mich verbotenerweise zu ihrem Versteck führte, das gab mir ein wenig das Gefühl zurück, die Rebellin zu sein.

"Jetzt müssen wir nur noch warten, bis das Wasser kocht", verkündete Gabriel und setzte sich auf eine Kiste. Er hatte einen Campinggrill angezündet und einen Topf mit Wasser daraufgestellt. Unruhig rutschte ich auf meiner Kiste hin und her.

Wir befanden uns in einem alten, verlassenen Haus mit zersplitterten Fenstern, es war kalt und dämmrig, nur das Tageslicht und das Feuer des Grills spendeten Licht. In einer Ecke des Zimmers lagen Schlafsäcke, Isomatten und Decken, in einer anderen waren ein paar Kisten und Taschen aufgetürmt.
Entschuldigend sagte er: "Das alles ist nicht das, was du gewohnt bist, ist mir schon klar. Aber wir sind froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Wenn du möchtest, kannst du auch jetzt schon gehen..."
Ich unterbrach ihn, denn der fehlende Komfort störte mich kein bisschen. "Nein, nein! Quatsch. Ich finde es gemütlich hier, mach dir mal keine Sorgen deswegen. Ich überlege nur gerade, wie es sein kann, dass eine einzige Person fünf Menschen wie euch Angst machen kann."
Vorsichtig versuchte ich, das Gespräch in die Richtung zu lenken, die mich interessierte, aber leider reagierte Gabriel nicht so, wie ich es mir gewünscht hatte.
"Er ist sehr klug, hinterlistig und gefährlich. Du müsstest das doch mit am besten wissen, er hat immerhin deine Schwester getötet..."
"Ähm, ja, klar." Diese Lüge hatte ich schon wieder vergessen.
Schief schaute Gabriel mich an. "Magst du mir erzählen, wie es passiert ist?"
Ich seufzte schwer. Eigentlich hatte ich keine Lust, Gabriel anzulügen, aber mir blieb wohl nichts anderes übrig. Wenn ich ihm jetzt sagen würde, dass meine Schwester nie existiert hatte, wäre meine angenehme Verbindung zur Gang in Gefahr.
Gerade, als ich irgendeine Geschichte erfinden wollte, kam mir das kochende Wasser zur Hilfe.
"Wir können die Spaghetti rein tun", bemerkte ich erleichtert. "Warte, ich mache es."
Ich riss die Packung auf und legte die Spaghetti ins kochende Wasser.

"Psht."
Gabriel erstarrte. Ich erschrak, blieb aber still.
Leise Stimmen drangen an mein Ohr, die definitiv zu Jeremy und Bird gehörten.
"Schnell, verschwinde. Im nächsten Raum gibt es eine Hintertür, die führt dich in einen Hof und von dort aus kommst du in die Gasse zurück. Melde dich bitte bei mir."
Genauso wie Cameron vor einigen Wochen zog Gabriel meinen Arm zu sich und schrieb eine Nummer darauf. Ich nickte knapp, murmelte "Ciao" und stürzte in den Nachbarraum.




[A/N: Und es geht endlich wieder weiter! Ich habe sage und schreibe fünf Stunden an diesem Kapitel gesessen und bin leider trotzdem nicht ganz zufrieden, weiß aber auch nicht mehr, was ich verbessern kann. Ich hoffe, es gefällt euch trotzdem. Lasst gerne einen Vote und einen Kommentar da. :)]

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 12, 2018 ⏰

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