7. Kapitel

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Meine Lunge brannte, den Schmerz in meinen Füßen nahm ich kaum noch wahr. Ich rannte nun schon so lange durch diesen finsteren Wald, stürzte immer wieder und stand mit blutigen Knien auf. Der heiße Atem meines Verfolgers im Nacken trieb mich nun schon seit Stunden zum Rennen.
Als ich das nächste Mal stürzte, versuchte ich, mich mit meinen Händen abzufangen. Ganz böser Fehler. Meine linke Hand landete auf einem spitzen Ast, der sich sofort in die Haut hineinbohrte und eine tiefe Wunde hinterließ. Ich keuchte vor Entsetzen auf. Die Schritte kamen näher.

"Aufstehen Liz, Schule!"
Henrys Weckruf war nicht mehr nötig, denn ich saß bereits schweißgebadet und schwer atmend senkrecht in meinem Bett, die linke Hand an die Brust gepresst. Sie pochte noch immer und fühlte sich heiß an. So, als wäre ich tatsächlich gestürzt. Der gesamte Traum erschien mir so real, ich konnte mich an jedes einzelne Detail erinnern, als wäre ich noch im Wald.

"Liz?"
Henry steckte seinen Kopf ins Zimmer. "Du bist im Zeitplan?"
Ich schüttelte hastig den Kopf, um meine Gedanken zu vertreiben. "Ja... Nein... Wie spät ist es?"
"Zehn vor sieben. Du musst in zwanzig Minuten los."
Mein Entsetzen hielt sich in Grenzen. Ich hatte sowieso nicht vorgehabt, in die Schule zu gehen. Aber Henry zuliebe beeilte ich mich mit dem Anziehen und verließ mit zehn Minuten Verspätung die Wohnung.
Meinen Rucksack stellte ich hinter unsere Mülltonne in den Verschlag, dann lief ich gemächlich die Straße herunter.
Der Himmel war an diesem Tag wolkenlos. Die letzten paar Wochen hatte es nur geregnet, und jetzt, wo eigentlich der Winter vor der Tür stehen sollte, schien noch einmal die Sonne, als wolle sie sich gebührend verabschieden.

Meine Füße lenkten mich in Richtung Alexanderplatz. Ich ging durch verschlungene Gassen, um nicht vom Sog der Touristen mitgerissen zu werden. Verwundert dachte ich daran, wie ich mich vor einigen Wochen nachts in diesen Gassen verlaufen hatte. Wie konnte es sein, dass ich mich hier verlief, wo es doch an jeder Ecke Straßenlaternen gibt? Wo hatte ich Bird nur getroffen? Es muss weit weg gewesen sein, anders konnte ich mir meine Orientierungslosigkeit nicht erklären.

Weit weg. Die Gang befand sich weit weg, ich hatte sie, seitdem sie mich entführt hatten, nicht mehr gesehen. Noch nicht einmal eine Spur von ihnen. Camerons Nummer auf meinem Arm war bereits seit über fünf Wochen verschwunden. Wenn ich so darüber nachdachte, konnte ich froh sein, denn ich war anfangs der festen Überzeugung, mich mit meiner leichtsinnigen Lüge unwiderruflich an sie gebunden zu haben. Aber offensichtlich war dem nicht so.

Ich schob meine Gedanken an die Gang beiseite. Über sie sollte ich nicht nachdenken, deren Lebensstil entsprach meinem nicht, ich war Einzelkämpferin, die die Naivität anderer ab und zu ausnutzte und sie versuchten, alles gemeinsam durchzuschlagen.
Als ich den Alexanderplatz betrat, lief ich geradewegs zu der Weltzeituhr, um die sich wie immer Touris tummelten.

Als ich den Alexanderplatz betrat, lief ich geradewegs zu der Weltzeituhr, um die sich wie immer Touris tummelten

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"Guten Tag." Freundlich lächelnd steuerte ich auf ein Paar mittleren Alters zu, die begeistert und ehrfürchtig auf die großen Zahlen der Uhr starrten. Als ich sie grüßte, wandten sie ihren Blick ab und schenkten mir ein breites Touri-Grinsen.
"Hallo, hübsches Mädchen! Kommst du aus Berlin? So eine tolle Stadt... Und kulturell so wertvoll!", strahlte mich die Frau an.
Ich unterdrückte den Würgreiz und zwang mich dazu, ihren Gesichtsausdruck anzunehmen. "Ja, ich bin von hier. Aber wissen sie was? Die Uhr wurde von Sklaven aus den jeweiligen Ländern gebaut, da die Stadt nicht wusste, welche Uhrzeiten gelten. Stellen sie sich das mal vor! Sklaverei, hier, in unserer fortgeschrittenen Zeit! Unglaublich, oder?"
Die Frau schlug ihre Hände vors Gesicht und sah mich geschockt an. Ihr Mann wandte den Blick wieder zur Uhr. "Das glaube ich nicht!"
"Glauben sie es ruhig", erwiderte ich, "mein Vater sitzt im Bundestag und weiß Bescheid."
Lautstark begannen die beiden sich zu beschweren, wie unverschämt das doch sei und was für eine Katastrophe und dass man das an die große Glocke hängen sollte, gleichzeitig wunderte ich mich mal wieder darüber, wie dumm Menschen waren. Nur weil ich aus Berlin kam, glaubten sie mir alles, was ich erzählte?

Während ich mich von den beiden Personifikationen von Dummheit belustigen ließ, sah ich aus dem Augenwinkel eine Person auf mich zukommen. Ich wandte den Blick zu ihr. Ein Junge, gerade so größer als ich, schlank, schwarze Haare, sommerliche Klamotten. Irgendwoher kannte ich ihn doch... Ich war mir ganz sicher, er kam mir seltsam bekannt vor.
Dann dämmerte es mir. Gabriel!

Mit zusammengezogenen Augenbrauen ging ich auf ihn zu, nicht wissend, wie ich reagieren sollte. Hätte ich Cameron statt Gabriel gesehen, oder Bird, hätte ich sicher anders reagiert. Aber Gabriel hatte ich eigentlich positiv in Erinnerung.
"Hey", sagte der magere Junge, als wir schließlich voreinander standen und vergrub seine Hände in den Taschen der kurzen Hose.
"Hey", antwortete ich.
Eine peinliche Stille entstand. Eigentlich hatte ich mir ein Wiedersehen mit der Gang anders vorgestellt, auch wenn ich nicht wusste, wie. Aber so ganz bestimmt nicht.
Dann kam mir ein Gedanke. Wo einer ist, sind die anderen nicht weit.
"Wo sind die anderen?", fragte ich also, froh, etwas sagen zu können.
"In Tegel."
"Warum?"
"Er hat uns mal wieder Geld, eine Jacke und Essen gestohlen und ist damit nach Tegel abgehauen, jetzt versuchen sie, die Sachen wieder zurückzukriegen."
Ich schmunzelte. "Ihr besitzt Jacken?", fragte ich scherzhaft mit einem Blick auf Gabriels graues Shirt, das an ihm herunterschlackerte.
Er lachte. "Ja, aber wir schonen sie. Die Dinger sind teuer."
"Wie viel Geld hat er euch gestohlen?", fragte ich und merkte, dass das ziemlich gefühllos war. Diese Menschen besaßen kaum mehr als das, was sie am Leibe trugen - und ihren Stolz. Aber ich war nun mal direkt und rücksichtslos.
Gabriel schien es mir nicht übel zu nehmen. "Hundertfünfzig Euro. Jeremy ist auf hundertachtzig. Er hat lange gespart, um Ivo besuchen zu können."
Obwohl die Neugier in mir brannte, ging ich nicht näher auf Ivo ein. Sonst wäre ich wieder zu sehr in diese Geschichte verstrickt und das wollte ich nicht. Ich entschied mich also dazu, den Smalltalk beizubehalten.
"Und warum bist du nicht auch in Tegel?"
Gabriel grinste. "Ganz einfach. Wir haben kein Essen mehr, also muss jemand einkaufen und welches zubereiten. Und das bin ich."
Ich legte die Stirn in Falten. "Hast du nicht gesagt, dass er euch euer gesamtes Geld gestohlen hat?"
"Ach, kleines Naivchen", lachte mein Gegenüber, seine Augen begannen zu funkeln. In mir stellte sich etwas auf, ich war genau das Gegenteil von naiv. Dennoch sagte ich nichts, denn ich wollte hören, was er sagte. "Einkaufen kann man auch ohne Geld."
Nach kurzem Überlegen und Schmunzeln von beiden Seiten machte Gabriel mir ein Angebot, das ich nicht erwartet hätte. "Möchtest du mitkommen?"

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