6. Kapitel

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Gabriel war ein schlaksiger, stiller Junge, gerade so größer als ich, mit pechschwarzen, abstehenden Haaren, blauen Augen und spitzen Wangenknochen. Generell wirkte sein ganzes Gesicht und seine Schultern etwas spitz und mager, fast unterernährt. Er war nicht mal annähernd so muskulös wie die anderen Jungen, die ich bisher kennenlernen durfte. Obwohl, musste traf es wohl eher.

Er entschuldigte sich überschwänglich bei mir dafür, dass er die Lage missverstanden und mich erneut verschleppt hatte. Ich war so überrumpelt von der Entschuldigung, dass ich sie annahm. Keiner der Gang hatte sich sonst bei mir entschuldigt, obwohl ich meiner Meinung nach durchaus eine Entschuldigung verdient hätte.
Gabriel war mir sympathisch, wohl als einziger der fünf, nur am Anfang hatte mir Birds Art gefallen, da sie meiner zu ähneln schien. Inzwischen sortierte ich sie aber eher in Camerons Liga ein.

Dessen Reaktion auf meine Lüge war vorhersehbar gewesen. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, seinen Körper versteift und durch zusammengebisse Zähne gezischt: "So ein ehrenloser Bastard. Vergreift sich an Mädchen. Mein Beileid, Kleine."
Ich hatte möglichst betroffen geguckt und nur genickt. Irgendwie verließ mich dabei das Gefühl nicht, dass Cameron die Tatsache, gegen ihn wie ein harmloses Kindergartenkind zu erscheinen, wütender machte als der vermeintliche Tod.

Ich mochte ihn nicht. Und er konnte mich nicht ausstehen.

Das stellte ich ziemlich schnell fest, nachdem Gabriel in unser Gespräch geplatzt war. Dieses anführerische Gehabe, das Ego, das größer war als der Eiffelturm in Paris und der herablassende Ton, mit dem Cameron mit den anderen sprach. Naja, außer mit Bird. Sie war irgendwie auch eine Autoritätsträgerin, ordnete sich jedoch eindeutig unter Cameron ein. Aber sie sprachen so miteinander, dass man eindeutig erkennen konnte, dass sie sich mochten. Oder eher sehr gut miteinander harmonieren und arbeiteten, mögen taten sie sich alle. Dass er mich nicht leiden konnte, bemerkte ich genauso schnell, denn er gab mir deutlich zu spüren, wie unerwünscht ich war.

Dementsprechend fühlte ich mich wie das fünfte Rad am Wagen, während ich neben dem schweigenden Gabriel hertrottete, obwohl ich ja eigentlich gewohnt war, eine Einzelgängerin zu sein. Mein Stolz war inzwischen fast völlig verschwunden, zwischen diesen Menschen war ich nicht das, was ich zwischen denen aus der Schule war. Das beklemmende Gefühl in mir breitete sich immer weiter aus, während ich die Stille ertragen musste, die nur durch unsere Schritte und die normale Geräuschkulisse der nächtlichen Stadt begleitet wurde.

Gerade überlegte ich, ob ich fragen sollte wie weit es noch zur U-Bahn war, als sich Bird zurückfallen ließ, sodass sie neben mir lief.
"Wie hieß deine Schwester?", fragte sie und ich merkte sofort, dass sie extra freundlich zu sprechen versuchte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Sie hielten mich tatsächlich für ein naives Mädchen, das keine Ahnung vom Leben hatte.
"Geht dich nichts an", antwortete ich kühl.
"Doch, tut es", erwiderte Bird. "Cameron hat dir Informationen über uns geliefert, jetzt wollen wir welche von dir."
Das ist fair, dachte ich, aber seit wann bin ich fair?
"Mir doch egal. Ich habe Informationen über euch verdient, weil ihr mich entführt habt. Über mich gibt es nicht viel zu wissen, was für euch spannend sein sollte."
Bird grinste. "Das stimmt. Ich will ja auch etwas über deine Schwester wissen, nicht über dich. Wie hieß sie, wie alt war sie, wie alt warst du bei ihrem Tod und wie hat er sie getötet?"
Ich schnaubte und antwortete gar nicht mehr.

Als wir um die nächste Ecke bogen sahen wir den Eingang der U-Bahn.
"Das wär's dann wohl. Von hier aus müsstest sogar du alleine zurechtkommen", sagte Cameron. Der Spott in seiner herablassenden Stimme war nicht zu überhören.
"Danke", zischte ich mit möglichst viel Sarkasmus und lief ohne ein weiteres Wort los.
Doch Cameron packte mich am Arm und zog mich unsanft zu sich zurück. "Nicht so schnell, Fräulein."
"He, lass mich los", fuhr ich ihn wütend an und versuchte, ihn meinen Arm zu entreißen, doch er umschloss mein Handgelenk mit einem festen Griff. "Was soll das?!"
Cameron lächelte mich mit funkelnden Augen an, zückte einen Kuli und schrieb eine Handynummer auf meinen Unterarm. Die Spitze des Stiftes drückte in meine Haut ein und hinterließ neben der blauen Farbe rote Striemen.

"Weil du zu stolz warst, uns von deiner Schwester zu erzählen, erwarte ich, dass du dich meldest. Wir wollen nur Gutes für eine, die auch unter ihm leidet. Du kannst mir vertrauen."
Cameron und ich wechselten einen festen Blick, ehe ich erwiderte: "Ich überlege es mir."
Gabriel trat vor und unterbrach meinen Blickkontakt mit dem Anführer der Gang. "Es tut mir wirklich leid", entschuldigte er sich zum tausendsten Mal. Sein ehrlich betroffenes Gesicht brachte mich zum Lächeln. "Ist schon gut", wiederholte ich. "Es ist ja nichts passiert."
Den anderen sagte ich nichts mehr und sie mir auch nicht. Ich wandte mich ab und verschwand in der U-Bahn.

Zuhause öffnete Henry mir schweigend die Tür und ich schlüpfte schweigend an ihm vorbei ins Haus. Er wunderte sich schon gar nicht mehr, dass ich mitten in der Nacht auftauchte, obwohl am nächsten Tag Schule war.
Auf direktem Wege ging ich ins Badezimmer, streifte mir meine Kleider vom Körper und sprang unter die Dusche. Als das warme Wasser über meine nachtkühle Haut floss, schloss ich genüsslich die Augen und hob mein Gesicht in den Wasserstrahl. Das angenehme Prickeln löste die Verspannung in meinen Muskeln. Ich griff nach einer Flasche und drückte mir Duschgel auf die Hand. Gründlich begann ich, meinen Körper einzuseifen. Bei meinem Arm hielt ich inne. Die Nummer, die Cameron darauf geschrieben hatte, war klar zu erkennen.
"Ich brauche ihn nicht. Ich brauche sie alle nicht", brummte ich nach kurzem Zögern und schrubbte darüber. Obwohl ich mich anstrengte, verschwand die Nummer nicht ganz. Schließlich gab ich es auf. Beim nächsten mal Duschen würde sie bestimmt weg sein.






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