Kapitel 3 - Und tschüss!

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Wenn die anderen glauben, man ist am Ende, so muss man erst richtig anfangen.
Konrad Adenauer


Freitag 2. Oktober 2015

Meine Ärztin sieht mich prüfend an. Am liebsten hätte ich die Augen verdreht. Ist es so schwer zu verstehen, dass ich kein weiteres Mal in dieses Krankenhaus kommen will? Ich will mich nicht mehr auf diesen Stuhl setzen. Ich will nicht mehr, dass sie mich an den Tropf anschliessen. Ich will kein wandelndes Chemieexperiment mehr sein. Schluss. Ich will nicht mehr! Mir reicht es.

„Bist du dir ganz sicher, dass du die Therapie abbrechen willst, Jelena?", fragt sie mich bestimmt zum millionsten Mal. „Es ist eine einschneidende Entscheidung."

Als ob ich das nicht wüsste. Als ob ich nicht wüsste, dass das Beenden der Therapie das Herunterfahren meines Betriebssystems beschleunigen wird. Herrgott nochmal ich bin nicht bescheuert. Ich bin todkrank, aber nicht beschränkt. Ich kapiere, was hier vor sich geht. Ich begreife die Zusammenhänge. Ich bin mir der Konsequenzen bewusst. Und niemand, wirklich niemand, wird mich umstimmen können. Ich habe entschieden. Fertig Chemo!

„Ja, ich bin mir sicher", antworte ich, bemüht höflich zu klingen. Die Ärztin legt ihre Stirn in Falten. So langsam zweifle ich an ihrer Intelligenz. Entweder sitzt eine ganze Schar Zugvögel auf ihrer Leitung oder sie glaubt mir schlicht nicht. Ich weiss nicht, was besser wäre: Eine zurückgebliebene Ärztin oder eine, die an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifelt.

Der Gipfel ist, als sie sich irgendwann meiner Mutter zuwendet. Mum hat dazu nun wirklich nichts zu sagen. Es ist mein Leben. Ein verdammt scheissiges Leben, aber es ist mein verdammt scheissiges Leben. Ich mag ihre Tochter sein, aber ich entscheide selbst darüber, wann ich durch bin mit dem Ganzen. Und ich bin verdammt nochmal durch. Ich habe keine Lust mehr auf den ganzen Medikamentencocktail, den sie mir in meine Venen lassen. Er bereitet mir Übelkeit und Haarausfall. Ich bin allergisch gegen das Zeug. Ich kann es nicht mehr sehen oder hören. Wieso will das keiner hier verstehen?!

„Können sie mich hier endlich abhängen oder bleibe ich hier angekettet für den Rest meines erbärmlichen Lebens?", fauche ich gereizt. Mum sieht mich vorwurfsvoll an. „Sprich bitte nicht so, Jelena."

„Was? Es ist doch nur die Wahrheit. Ich will hier raus und zwar dalli!", gebe ich trotzig zurück. Meine Mutter legt mir die Hand auf die Schulter. „Du kommst hier ja auch raus. Aber ich möchte alle Möglichkeiten besprochen haben, bevor wir entscheiden, wie es weitergehen wird."

Ich sehe sie eindringlich an. „Mum, ich habe längst entschieden."

Da bricht meine Mutter in Tränen aus. Sie dreht sich von mir ab und stellt sich ans Fenster. In dem Moment geht die Tür auf und mein übermüdeter Vater betritt das sterile Krankenzimmer, in dem ich immer noch auf dem grauen Stuhl sitze und darauf warte, dass ich meinen Willen bekomme. Dad kommt zuerst zu mir und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Als sein Blick auf Mum fällt, zieht er eine Augenbraue hoch.

„Was genau hast du mit meiner Ehefrau gemacht?", fragt er mich leise.

„Nichts. Ich habe nur meine Meinung gesagt", gebe ich zurück. Dad stöhnt leise. Er kennt mich und er ist von meinen Eltern derjenige, der besser mit meinem Galgenhumor umgehen kann. Mum mag schwarzen Humor nicht. Schon gar nicht, wenn er auf Tatsachen beruht, was er in meinem Fall immer tut.

Mein Vater richtet sich wieder auf und geht zu meiner Mutter. Die Ärztin ist unterdessen auch zu ihr getreten. Die drei Erwachsenen reden leise miteinander. Stöhnend lege ich meinen Kopf in den Nacken. Ich hasse das, wenn sie über mich reden und mich nicht am Gespräch teilhaben lassen. Was sie dann allerdings machen, schiesst den Vogel wirklich ab. Sie ziehen sich tatsächlich ins Nebenzimmer zurück. Was soll dieser Blödsinn?!

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