Kapitel 18 - Im Wechsel der Gezeiten

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Jeder Abschied ist betäubend. Man denkt und empfindet weniger, als man glaubte.
Johann Gottfried von Herder


Noch 1'750 Kilometer

Meine ganze Familie ist geschockt, als wir ihnen am nächsten Morgen erzählen, was vorgefallen ist. Sie können es genauso wenig glauben wie ich. Es ist alles so unwirklich. Wir krempeln kurzerhand unseren Plan um, zwei Tage in Göteborg zu bleiben, und machen uns noch am selben Morgen auf den Weg nach Stockholm. Jason wird einen Last Minute-Flug nach Zürich nehmen und das wird wahrscheinlich ein Abschied für immer sein. Mir schnürt sich der Hals zu, wenn ich daran denke. Ich könnte heulen, aber ich tue es nicht. Ich will es meinem Freund nicht noch schwerer machen.

Die ganze Fahrt über presse ich mich an ihn und er hält mich fest. Wir sprechen kaum. Ich bin zu schwach, um etwas zu sagen. Ich weiss auch gar nicht, was sagen. Mein Gehirn ist wie betäubt. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die Welt zieht einfach an mir vorbei. Das einzige, was ich wirklich registriere, ist Jason, in dessen Armen ich liege. Ich konzentriere mich auf seinen Herzschlag, um nicht ganz verrückt zu werden. Jace ist erstaunlich ruhig, wenn man bedenkt, dass gerade seine komplette Welt über ihm zusammengebrochen ist, eingestürzt wie ein instabiles Kartenhaus. Es kommt mir fast so vor, als hätte er alle Gefühle einfach irgendwohin verbannt. Er unterdrückt sie. Aber ich weiss, dass sie in ihm hochkochen werden, wenn er heute Nacht alleine in seinem Bett liegt. Er bleibt zur Zeit nur meinetwegen stark. Er hat für mich eine gleichgültige Maske aufgesetzt. Innerlich ist er vollkommen zerstört. Doch er will nicht, dass ich ihn leiden sehe, genauso wenig wie ich will, dass er mich leiden sieht. Und so sitzen wir schweigend im VW Bus und klammern uns aneinander. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich heute Abend einschlafen soll. Wahrscheinlich werde ich die ganze Nacht lang wach liegen. Ich habe mich so sehr daran gewöhnt, dass ich ihn neben mir habe, dass er neben mir liegt, dass ich einfach nur seinem Atem zu lauschen brauche, um irgendwann in den Schlaf zu gleiten, dass ich alleine vermutlich gar nicht mehr einschlafen kann. Der Kloss in meinem Hals wird noch grösser und ich kralle meine Finger in seinen Pulli. Er drückt mir einen Kuss auf den Kopf und zieht mich noch näher zu sich. Traurig schliesse ich die Augen.

Die fünf Stunden Fahrt von Göteborg bis Stockholm kommen mir unglaublich kurz vor. Dad lenkt den Bus zum Flughafen und am liebsten wäre ich einfach gar nicht ausgestiegen. Aber Jason nimmt mich bei der Hand und ich folge ihm. Ich habe bereits mit dem Gedanken gespielt, einfach mit ihm zurück in die Schweiz zu fliegen, aber das mute ich meinem Körper nicht mehr zu. Ich bin zu schwach für einen Flug. Schon nur beim Gedanken daran dreht sich mir der Magen um. Zudem kann ich nicht meine Familie hier zurücklassen und für uns alle gibt es keinen Platz mehr in der Maschine. Dafür sind wir zu spät. Schon Jason hat Mühe, noch ein Ticket für den Flug nach Zürich zu ergattern. Auch mit den Autos zurückreisen kommt nicht in Frage. Ich würde es nicht mehr in die Schweiz schaffen, ich weiss es einfach. Meine Zeit ist abgelaufen. Der Krebs gewinnt den Kampf gegen meinen Körper. Der Sand ist schon fast vollständig durch die Uhr gelaufen. Es bleibt mir einfach nicht mehr genügend Zeit.

Und dann ist es soweit. „Flug 3613. Letzter Aufruf für Fluggäste nach Zürich, Schweiz", verkündet die monotone Mikrofonstimme. Tränen schiessen mir in die Augen. Ich kann gar nichts dagegen tun. Jason steht auf. Er drückt alle aus meiner Familie an sich und steht am Schluss mit hängenden Schultern vor mir. Ich sehe ihm in die Augen. Ich kann nichts sagen. Mein Hals ist komplett zugeschnürt. Er zieht mich einfach in eine Umarmung. Fest drückt er mich an sich. Ich schlinge meine Arme um seine Mitte und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust. Tränen rinnen über meine Wangen. Er streichelt über mein Haar. Dann löst er sich ein wenig von mir, um mich auf die Lippen zu küssen. Ich vergrabe meine Hände in seinen Haaren und erwidere seinen Kuss, seinen letzten Kuss.

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