Kapitel 23 - Das Versprechen

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Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen.
Albert Schweitzer


Noch 688 Kilometer

Jason

Zusammengesunken sitze ich auf einem Stuhl im Wartesaal des Spitals in Kiruna. Zac hat seine Hand auf meine Schulter gelegt und leistet mir einfach Gesellschaft. Ich habe meinen Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Mein Kopf ist leergefegt, ich denke irgendwie gar nichts mehr.

Irgendwann geht die automatische Tür auf und ihr Vater betritt den Wartesaal. Auch er sieht vollkommen fertig aus. Er lässt sich gegenüber von uns auf einen Stuhl sinken. „Sie operieren noch immer", erklärt er uns müde und fährt sich durch die Haare. „Danke, dass du gekommen bist, Jason."

„Das ist doch das Mindeste!", erwidere ich und sehe ihn an. „Was operieren sie denn eigentlich?"

„Sie legen bloss eine Drainage, um die Flüssigkeit in ihrer Lunge abzuleiten. Danach sollte sie wieder besser atmen können, aber viel machen kann man leider nicht."

Ich nicke. Sie verlängern nur wieder ihr von Schmerzen begleitetes Leben um ein kleines Bisschen. Aber gesund wird sie dadurch nicht und den Tumor operativ entfernen, das kommt in diesem Stadium nicht mehr in Frage. Erschöpft fahre ich mir übers Gesicht.

„Sie schafft das schon", meint ihr Vater leise. Die Worte hören sich nicht überzeugt an. Ich erwidere nichts und so schweigen wir wieder, warten auf Neuigkeiten.

Die Tür geht erneut auf und der Rest kommt zu uns. Leo setzt sich kommentarlos neben mich und lehnt sich an meine Schulter. Der kleine Junge hat auch geweint, ich sehe es. Ich lege meinen Arm um ihn und halte ihn fest. Jelis Mutter sieht mich dankbar an. Auch sie hat verweinte Augen. Sie lässt sich neben ihren Mann nieder, der sanft auf sie einredet. Lora und Rocco setzen sich neben Zac.

„Sie muss wieder aufwachen", murmelt Leo in die Stille hinein. Ich streiche ihm über seine dunklen Locken. „Das möchte ich auch." Ich sehe, wie eine Träne über die Wange des Jungen rinnt, und nehme ihn fester in den Arm. Er klammert sich an mich.

„Boradi?"

Jelis Vater steht auf und dreht sich der Frau zu. „Das sind wir", antwortet er.

„Wenn Sie mir bitte folgen würden."

Er nickt und hält seiner Frau die Hand hin. Die beiden gehen der Pflegerin hinterher und wir anderen bleiben in der Wartehalle zurück. Die Stille macht mich völlig fertig. Ich hasse Warten.

In meiner Tasche steckt immer noch Jelis Tagebuch. Ich hole es wieder hervor und betrachte es lange. „Was haltet ihr davon, wenn wir alle etwas reinschreiben für sie?", frage ich dann leise.

„Das ist eine schöne Idee", stimmt mir Lora zu. Auch die anderen sind einverstanden. Ich reiche Lora das Tagebuch. „Du darfst anfangen", sage ich zu ihr. Sie lächelt und nimmt das kleine Buch entgegen. Danach holt sie einen Stift aus ihrer Tasche und beginnt zu schreiben. Sie hat noch kaum angefangen, als Jelis Vater wieder auftaucht. Ich sehe ihn an. Er nickt mir leicht zu. Erleichterung macht sich in mir breit bei dieser kleinen Geste.

„Sie ist wach und möchte dich sehen", erklärt er mir. Auch in seiner Stimme kann ich die Erleichterung deutlich hören. Ich drücke mich aus dem Stuhl hoch. Leo sieht mich mit grossen Augen an. Ich wuschle ihm durch seine Haare. „Du bist als nächster dran, versprochen", versichere ich ihm. Damit scheint er sich fürs Erste zufrieden zu geben. Ich folge Jelis Vater, der mich durch die Gänge zu einem Zimmer führt. Vor der Tür bleibt er stehen. „Ich werde hier draussen warten", meint er und lächelt mir aufmunternd zu. Ich nicke nur und wende mich der Tür zu. Mit geschlossenen Augen stehe ich da, die Hand schon auf der Klinke. Ich atme tief durch und drücke sie dann hinunter. Die Tür geht auf und ich betrete das Spitalzimmer. Ich bin endlich bei ihr, so wie ich es ihr versprochen habe.

Auf einem Monitor neben dem Bett kann ich ihren schwachen Herzschlag verfolgen. Sie lebt noch. Ich bin nicht zu spät gekommen. Leise trete ich an ihr Bett. Sie sieht so schwach aus, so zerbrechlich. Ihr Haut ist blass, ihre schönen Augen geschlossen. Sanft lege ich meine Hand über ihre, betrachte sie einfach nur. Ich präge mir ihr Gesicht haargenau ein. Ich will sie nicht vergessen, nicht das kleinste Detail von ihr. Aber ich weiss, dass ich das irgendwann tun werde. Ich werde vergessen. Irgendwann werde ich nicht mehr genau wissen, wie ihre Stimme geklungen hat, wie sie gelacht hat, wie sich ihre Haut, ihr Haar angefühlt hat. Aber an eines werde ich mich für immer erinnern. Ich werde immer wissen, wie es war sie zu lieben.

Ich ziehe einen Stuhl neben ihr Bett und setze mich hin. Ich werde bei ihr bleiben bis das zu Ende ist. Ich werde nicht weggehen. Ich werde sie nicht alleine lassen.

„Jace?"

Ich sehe sofort auf. Sie blinzelt schwach. Ich drücke ihre Hand. „Ja, ich bin hier, Liebling", flüstere ich leise. Ein feines Lächeln tritt auf ihr blasses Gesicht, danach schliesst sie die Augen wieder. Sie sinkt zurück in den Schlaf und ich bleibe einfach neben ihr sitzen, ihre Hand in meiner.

***

Es ist später Nachmittag, als sie das nächste Mal die Augen aufschlägt. Ich sehe auf, als sie meine Hand kurz drückt. „Du bist ja wach!" Sie nickt und schenkt mir ein Lächeln. Ein Lächeln, das mein Herz etwas schneller schlagen lässt. Ich beuge mich zu ihr und küsse zärtlich ihre Stirn. Sie legt ihre kleine Hand an meine Wange und blickt mir in die Augen. Trotz der ganzen Schläuche ist sie noch wunderschön. Ich werde niemals ein anderes Mädchen lieben als sie.

„Wie geht es dir?", frage ich sie sanft.

„Ich werde nie sehen, was hinter Europa kommt", haucht sie als Antwort. Die Reise ist ihr noch immer wichtiger als ihre Gesundheit.

„Vielleicht ja doch."

Sie schüttelt leicht den Kopf. „Nein, Jace, ich bin zu schwach."

Ich sehe sie lange an. „Aber ich nicht", murmle ich irgendwann nachdenklich. „Ich könnte für dich hinfahren, für dich sehen, was dahinter kommt. Aber dann musst du mir versprechen, dass du mir zwei Tage Zeit gibst."

Ihre Augen leuchten und sie streicht über meine Wange. „Ich verspreche es dir."

Ich zweifle nicht an ihren Worten. Sie will dieses Versprechen halten, aber ich weiss nicht, ob sie das kann. Trotzdem glaube ich ihr. Wenn sie glaubt, dass sie das schafft, kann ich nicht daran zweifeln.

„In zwei Tagen bin ich wieder hier." Ich küsse sie zärtlich. „Ich liebe dich."

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