Kapitel 11 - Abschied und Anfang

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Eine Idee muss Wirklichkeit werden können, oder sie ist nur eine eitle Seifenblase.
Berthold Auerbach


Noch 3'810 Kilometer

Letzter Eintrag, 16. Oktober 2015

Liebes Tagebuch
Dies hier wird mein letzter Eintrag sein. Ich nehme Abschied, lasse alles zurück, was ich früher als mein Zuhause angesehen habe. Aber nun ist mir eines klar geworden: Es spielt überhaupt keine Rolle, wo auf der Welt man sich gerade befindet. Zuhause ist immer dort, wo man unter geliebten Menschen ist. So gesehen, packe ich eigentlich mein ganzes Zuhause in den alten VW Bus, der reisebereit in unserer Einfahrt steht, und nehme alles mit. Und doch irgendwie nicht. Meine riesige Sammlung an Büchern, mein gemütliches Bett, mein Schreibtisch, der so viele Wutausbrüche wegen meinen bescheuerten Hausaufgaben miterlebt hat, der weiche Teppich, auf dem ich oft auf dem Bauch gelegen und ein Buch gelesen habe, und auch alles andere in meinem Zimmer muss ich hier lassen.

Ich liege ein letztes Mal auf der weichen Matratze und sehe durch das Dachfenster in den unendlichen Himmel hinauf. Ich werde mit allergrösster Wahrscheinlichkeit nie mehr hierher zurückkommen. Ich bin noch schwächer, noch zerbrechlicher, noch dünner geworden. Und deshalb muss ich jetzt gehen. Ich muss gehen, muss die 3'800 km in Angriff nehmen, um zumindest einen Teil meiner Reise verwirklichen zu können. Vielleicht ist es absolut gestört, was ich vorhabe. Ich meine, den grössten Teil dieser Reise werde ich in einem klappernden VW Bus verbringen, wahrscheinlich schlafend. Und trotzdem ist es noch einmal etwas, das ich nur mit meiner Familie und meinen lieben Freunden erleben darf. Ich nehme an, ich mache es deswegen.
Die Reise ins Nichts. Die Reise ins Jenseits. Die Reise zu den Nordlichtern. Meine letzte Reise.

Lebe wohl, Tagebuch, du warst ein treuer Begleiter und dank dir, hat meine Nachwelt auch noch was von mir. Ich werde nicht mehr schreiben. Ich werde meine spärliche Kraft anderweitig nützen müssen. Und so muss ich auch von dir Abschied nehmen.
Danke, dass du mich durch so viele schwere Momente begleitet hast, dass du dir mein ganzes albernes Geschwafel über Jungs angehört hast, dass ich nie ganz alleine war. Danke, liebes Tagebuch.

Jeli

***

Als ich das Haus mit meiner Tasche verlasse, lehnt Jace an der Hauswand und raucht seine letzte Zigarette. Er wird aufhören. Er hat es mir versprochen und ich glaube ihm.

Mit gespielt traurigem Blick schnippt er das letzte Bisschen Asche weg und drückt das krebsfördernde, Lungen teerende, gesundheitsschädliche Räucherstäbchen aus. Danach hebt er den Kopf und sieht mich lächelnd an. „Jetzt hast du offiziell keinen Raucher mehr als Freund", erklärt er stolz. Ich lächle und lasse meine Tasche zu Boden sinken. Sie ist doch ganz schön schwer geworden. Jason stösst sich von der Hauswand ab und tritt zu mir. Er will mich küssen, doch ich drücke ihn weg.

„Du darfst mich gerne küssen, nachdem du dir die Zähne fünfmal geputzt und einen Pfefferminzkaugummi gekaut hast", weise ich ihn zurecht. Er verzieht die Lippen missmutig zu einem schmalen Strich. Ich tätschle seinen Arm und gehe grinsend an ihm vorbei. Die Tasche überlasse ich ihm. Ich höre ihn schmunzeln, bevor er meine Tasche hochhebt und mir folgt.

Mum schliesst mich kurz in die Arme, als ich den VW Bus erreiche. „Bereit?", fragt sie mich fröhlich. Ich nicke. „Dann kann's ja losgehen!" Sie teilt meine Begeisterung, was mich unglaublich glücklich macht.

Rocco sitzt am Steuer und winkt mir grinsend zu. Neben ihm mein Dad, der die Karte studiert und die beste Route raussucht. Auf der Rückbank, die wir jeweils runterklappen werden, um daraus ein Bett zu machen, sitzt Lora, die sich schon ganz wohnlich eingerichtet hat. Aber einer fehlt. Mein kleiner quirliger Bruder. Suchend sehe ich mich nach ihm um, und da entdecke ich ihn auf dem Rücksitz von Jasons Mustang. Er unterhält sich mit jemandem und scheint sehr viel Spass dabei zu haben. Der jemand ist Zac. Ich bin zuerst etwas überrascht, ihn zu sehen, aber eigentlich verwundert es mich nicht. Die beiden Jungs sind eben beste Kumpels und zudem braucht auch Jace jemanden, der ihn zwischendurch mit Fahren ablösen kann

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