Kapitel 4 - Nein

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Ihr aber seht und sagt: Warum? Aber ich träume und sage: Warum nicht?
George Bernard Shaw


Samstag 3. Oktober 2015

Es ist wohl nicht sonderlich schwer zu erraten, dass ein riesen Donnerwetter auf mich gewartet hat, als ich gestern nach meinem kleinen Ausflug mit dem Arztsohn zuhause ankam. Mum tobte vor Wut. Ich habe sie noch nie so ausser sich erlebt. Sie ist beinahe verrückt geworden vor Sorge um mich. Sie hat schon recht. Mir hätte weiss Gott was passieren können. Also liess ich das Gewitter klaglos über mich ergehen.

Jetzt liege ich auf meinem Bett und starre zur Decke hoch. Irgendwie kann ich seine bernsteinfarbenen Augen einfach nicht mehr aus meinen Gedanken verbannen. Sobald ich die Augenlider schliesse, sehe ich ihn vor mir. Jedes winzige Detail von ihm, nur die Zigarette fehlt. Ich will nicht, dass er raucht. Das macht alles irgendwie kaputt. Mein Arztsohn soll nicht rauchen! Wieso ich ihn Arztsohn nenne? Ganz einfach: Ich kenne seinen richtigen Namen nicht. Irgendwie war das unwichtig. Jetzt verfluche ich mich dafür.

Ich setze mich auf und starte meinen Computer. Vielleicht findet ihn Facebook. Er ist bestimmt registriert, denke ich mir und öffne die Seite. Da stellt sich schon das erste Problem dar. Ich habe keine Ahnung von ihm. Verzweifelt fahre ich mir durch meine kurzen Haare. Plötzlich kommt mir doch etwas in den Sinn. Ich kenne ein Detail, das ihn suchbar macht: Sein Vater ist Arzt im Inselspital. Also gehe ich auf die Internetseite des Spitals und scrolle die Liste der verschiedenen Ärzte durch, die netterweise aufgeführt sind. Meine Euphorie schwindet schnell, als mir bewusst wird, wie viele Mitarbeiter die Insel hat. Einen sexy Arztsohn so suchen zu wollen, ist absolut hirnrissig. Ich suche die Nadel im Heuhaufen. Nein, ich suche ein Sandkorn in der Sahara. Es hat keinen Sinn.

Trotzdem gebe ich einige der Nachnamen dieser unzähligen Ärzte im Facebook ein. Ich finde meinen Prinzen nicht. Was für ein Wunder...

Stattdessen erhalte ich eine Nachricht auf meinem Handy. Eigentlich hätte ich gar nicht hinsehen müssen, um zu wissen, von wem sie stammt.

Mr. Enigma: Ich hoffe, du lebst noch, weil ich mich nämlich für meine aufdringliche Art entschuldigen möchte. 

Ich klappe meinen Laptop zu und entsperre mein Handy.

Ich: Keine Sorge, ich lebe noch. Ja, da tust du gut dran. Du warst echt nervig!

Mr. Enigma: Sorry :*

Ich: Was zur Hölle ich das für ein Smiley?!

Mr. Enigma: Es gibt dir ein Küsschen. Sieht man das nicht? Ich bin enttäuscht!

Aus irgendeinem Grund spüre ich, wie mir die Röte ins Gesicht schiesst. Ich bin noch nie wegen einer Nachricht rot geworden. Was macht dieser Mensch mit mir?!

Ich: Ach so...

Mr. Enigma: Wollen wir uns vielleicht mal treffen?

Ich: Nein.

Schreibe ich hastig. Meine Finger zittern. Das geht mir jetzt doch zu weit. Ich lege mein Handy schnell weg und stehe auf. Sowas geht nicht. Ich kenne ihn gar nicht. Ich kann mich nicht mit diesem Kerl treffen. Nie im Leben!

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend stolpere ich die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer, um Abstand zwischen mich und Mr. Enigma zu bringen.

Dad sieht erstaunt von seiner Zeitung auf, als ich mich neben ihn aufs Sofa schmeisse.

„Was für eine Tarantel hat dich denn gestochen?", fragt er mich lächelnd und legt die Zeitung beiseite. Stöhnend lege ich mich hin und puste mir eine Haarsträhne aus der Stirn.

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