Kapitel 4

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Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug.

Sey war mir zu Anfang immer suspekter geworden. Diese abschätzenden Blicke, als würde er den Rhythmus meines Herzschlages ermitteln wollen. Jedes einzelne Haare- hinter-die-Ohren streichen oder T-Shirt-in-die-richtige-Position zuppeln wurde durchgehend von ihm analysiert.

Ich sprach ihn nicht darauf an. Generell wurde nicht viel bei uns gesprochen. Abgesehen von einem halbherzigen Hallo.


Vor etwa einer halben Woche geschah etwas merkwürdiges, Sey hatte mich angesprochen. Er fragte nach meinem Geburtsdatum. Direkt danach nach meinem Zweitnamen, dem ich ihm selbstverständlich noch immer verschweige.. Seit diesem Sonntag hat sich alles verändert. Alles.


Seine Blicke waren nicht mehr so abschätzend. Sobald die Eingangstürklingel unseres Ladens schellte, wurden seine Blicke hektisch. Er bemühte sich darum, in meiner Nähe zu sein. Des Weiteren achtete Sey peinlichst darauf, mich nicht mehr zu berühren, seitdem er wusste, dass es mich erschreckt. Jedes Mal, wenn ich Feierabend gemacht hatte, bat er mich vorsichtig zu sein. Und ich spürte, dass Sey das nicht aufgrund der Redensart einer Verabschiedung bittet.

Biiip Biiiip Biiiip!

"Klappe!", weniger liebevoll schlug ich mit einer Faust auf den Wecker. Eindeutig zu früh für morgendliche Zärtlichkeiten.

Nach dem Müsliverzehr, durch den mein Blutzucker stieg und meine Laune hochfuhr, schlüpfte ich in meine Alltagsklamotten und verabschiedete mich von meinen Eltern.

Die Sonne war noch nicht komplett aufgegangen, trotzdem wurde mein Schulweg von dem dämmrigen Licht erhellt. Je weiter ich lief, desto mehr wurde mir die hohe Luftfeuchtigkeit bewusst. Es war leicht nebelig, was nichts Ungewöhnliches an frühen Mordenden war. Und dennoch verlieh es dem Ganzen eine gruselige Atmosphäre.

Unbeirrt lief ich weiter, mit den Gedanken an den einen Satz, der mich einfach nicht mehr losließ.

"Du spürst nicht den Atem deines Gegners im Nacken. Angel, das ist Rückendwind!", wie ein Mantra.

Plötzlich erzitterte ein kleiner, aschgrüner Buchsbaum neben mir. Seine Blätter raschelten unheilvoll. Erschrocken stolperte ich zwei Schritte zur Seite. Er warf einen stacheligen, gezackten Schatten vor sich. Wie aus dem Nichts hetzte eine anthrazitfarbene Krähe laut krächzend aus diesem Busch.

Mir blieb keine Zeit, erschrocken auf zu schreien. Schnell duckte ich mich, um eine Kollision mit diesem Vieh zu vermeiden. Ich konnte ihren schnellen, pumpenden Herzschlag spüren, den silbrigen Schimmer sehen, der bei jeder Bewegung sanft über ihr Federkleid floss. Irgendetwas hatte sie dermaßen verängstigt, dass sie in Kauf genommen hätte, mit einem Menschen zusammen zu stoßen.

Die kräftigen Flügelschläge der Krähe hallten noch Minutenlang in meinem Ohren nach. Ich versuchte meinen hektischen Atem wieder zu normalisieren und strich mir mehrmals beruhigend über die Arme. Es schien, als entziehe der blasse Sonnenschein allem die Wärme. Alles schien lebloser, trister als sonst.

"Du spürst nicht den Atem deines Gegners im Nacken. Angel, das ist Rückendwind!"

Auf einmal beschlich mich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich stoppte und drehte mich um. Nichts.

Ein kalter Schauer kroch mir über den Rücken. Ich fing an zu frösteln. Meinem Mund entstiegen weiße Wölkchen. Ich schlang meine Arme erneut um mich und beschleunigte das Lauftempo.

Kaum hatte ich die Hälfte des Weges erreicht, meinte ich Schritte hören zu können. Schwere, eilende Schritte, so als hätten sie ihr Ziel fast erreicht. Ich drehte mich erneut um. Nichts. So langsam wurde es unheimlich.

"Du spürst nicht den Atem deines Gegners im Nacken. Angel, das ist Rückendwind!"

Schlagartig kam eine Windböe auf und warf laut scheppernd eine Mülltonne um. Ruckartig drehte ich mich in diese Richtung.

Die Mülltonne hatte ihren gesamten Inhalt auf den umliegenden Bordstein verteilt. Man konnte fast sehen, wie sich der faulende Geruch wabernd in der Luft verteilte. Papierfetzen wurden mit dem Lufthauch mitgerissen, gezwungen einen leblosen Tanz beizuwohnen.

Wild zog der Wind an meinen Haaren, drückte meinen Körper in die Entgegengesetzte Richtung.

"Du spürst nicht den Atem deines Gegners im Nacken. Angel, das ist Rückendwind!"

Genauso schnell wie der Luftzug aufkam, verschwand er. Erleichtert atmete ich aus und taumelte kurz. Meine Schritte fühlten sich viel entspannter an. Kaum hatte ich mir den Schweiß von der Stirn gewischt, stieß ich einen stummen Schrei aus.

Dort, unmittelbar in meinem linken Sichtrand hatte sich etwas bewegt. Vergleichbar mit einem Schatten. Ich traute mich weder, dort nachzusehen, ob meine Vermutung richtig lag, noch weitere Gedanken an verschwörerische Verfolgungstheorien zu verschwenden.

Zwischen mehreren panischen Atemstößen, fing ich so leise wie möglich an zu joggen.

"Du spürst nicht den Atem deines Gegners im Nacken. Angel, das ist Rückendwind!"

Mittlerweile konnte ich nicht sagen, ob diese Worte von meinem eigenen Verstand produziert wurden, oder ob sie mir Jemand sagte. Sie mir direkt ins Ohr geflüstert wurden, aber hier war Niemand außer mir. Glaubte ich.

'Wie zerzaust und schwitzend ich in der Schule ankommen werde, wenn ich weiter so haste!', rief ich mir in Gedanken und verfiel wieder in einem lockerem Schritttempo.

"Du spürst nicht den Atem deines Gegners im Nacken. Angel, das ist Rückendwind!"

Urplötzlich ertönte ein hohles Knacken hinter mir. Ein Stöckchen zerbrach.

'Durch was?', fragte ich mich.

Oder besser:

'Von wem?', korrigierte ich mich selber.

Kaum war ich zu dieser Erkenntnis gekommen, vibrierte der Boden. So als hätte ein riesengroßes Tier einen gewaltigen Satz gemacht, Ich wimmerte und rannte, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her.

Immer größer wurde die Angst verfolgt zu werden, und immer lauter die Schritte hinter mir.

'Mich verfolgt Niemand, das ist absurd!'

Wahrscheinlich war es nur Zufall, dass derjenige denselben Weg läuft. Vielleicht muss er auch zur Schule und die Wetterbedingungen haben meinen Verstand durchdrehen lassen. Genauso wird es sein.

"Du spürst nicht den Atem deines Gegners im Nacken. Angel, das ist Rückendwind!"

Ich hielt in meiner rasenden Bewegung inne und war bereit, wem auch immer in die Augen zu sehen, als plötzlich ein Wagen quietschend um die Ecke raste. Von dem Auto stieg matter, aschiger Dampf auf. Es hupte mehrfach. Die Beifahrertür wurde aufgestoßen. "Steig ein. Jetzt sofort!", dröhnte es fordernd aus dem Inneren.

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und stürmte zu dem Wagen. Ich hätte schwören können, dass mich Etwas berührt hat. Etwas Haariges, Pelzaritgem, doch die Erkenntnis wer der Fahrer war, ließ mich plötzlich alles vergessen.

Fahr zur Hölle, LieblingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt