Kapitel 3

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„Und wie schmeckt es euch?"


Meine Mutter hatte gerade ein tolles "So begeistern sie ihre Familie" - Rezept aus einer Frauenzeitschrift gekocht. Wäre mir nicht vorher gesagt worden, dass es sich um ein essbares Etwas handelte, wäre mir der Begriff: "Vertrocknetes Moos, verfeinert mit zerstückeltem Buntstiftmienen" in den Sinn gekommen. Zu meinem Bedauern stellte es sich als: "Bestechen sie ihre Kinder mit farbenfrohen Gemüse!" in Form von pürierten Brokkoli, Ingwer mit Karotten und etlichen anderen vegetarischen Grünfutter. Das ganze gebraten zu Frikadellen artigen Brocken.

„Was ein fantastisches Geschmacks Erlebnis!"

Ja ... vergleichbar mit Baumwolle.

„Sehr lecker, mein Schatz", mein Vater nickte anerkennend und schnitt tapfer eine weitere Ecke von dem gummiartigen Fremdkörper ab.

Lügen gehörte nicht zu meinen Stärken, weswegen ich die Lippen zusammenpresste und ein möglichst überzeugtes: "Mhm!" von mir gab. „Die Tomaten-Chili Suppe wird euch morgen vom Hocker reißen!", verkündete sie fröhlich.

Soll das eine Drohung werden? Allein der Gedanke an einen weiteren Gang wie diesen ...

Mir drehte sich der Magen um, meine Hände wurden schwitzig. Mein Vater und ich waren beide so geschockt, dass wir uns verschluckten und synchron anfingen wie bekloppt zu husten. „Ohje! Wollt ihr etwas von meinem selbstgemachten Kartoffel Smoothie?"

„Oh bitte nicht!", zwischendurch musste ich die Luft anhalten, damit eine weitere Hust-Welle mich verraten hätte, „Äh ich meine *hust hust* ich glaube es geht wieder."

"Und du, Martin?"

"Bei mir geht's auch."

Der Kopf meines Vaters war knallrot. Er glich einer Paprikaschote. Kaum hatte ich die breiige Masse heruntergewürgt, musste ich lauthals lachen, dieser Anblick war einfach zu genial. Meine Mutter bedachte uns mit einem misstrauischen Blick. Scheinbar verlor unser Lob an Vertrauenswürdigkeit.

"Wie hat Sey sich heute gemacht, Alice?", wechselte sie gekonnt das Thema. Das überrumpelte mich um einiges mehr. Auf einmal überkam mich eine Hitzewelle.

War die Heizung angesprungen?

'Das ist nicht wegen ihm!', ermahnte ich mich.

"Scheinbar hat da Jemand den Kopf unserer Tochter verdreht.", witzelte mein Vater. Ich ging darauf gar nicht erst ein. „Er ist seltsam", fauchte ich und beendete die Konversation. Ich stand auf. Die Stuhlbeine scharrten laut über die Holzdielen. *Ich stellte meinen mühsam leergegessenen Teller auf die Küchentresen, ebenso wie mein Glas und Besteck, verschwand in meinem Zimmer.

Gerade als ich dachte, ich könnte kurz durchatmen, klingelte mein Handy. „Beauty ruft an"

„Du warst nicht zufällig an meinem Handy, Fiona", startete ich das Telefonat.

"Waaas?"

Ich hatte sie garantiert nicht als „Beauty" eingespeichert. „Biest" trifft es besser.

„Und wie war dein Tag? Sprechende Bücher oder so was?"

"Naja, sprechende Bücher nicht, aber wir haben eine neue Aushilfe."

Ich probierte schon seit Monaten, Fiona davon zu überzeugen, sich als Aushilfe in dem Laden meiner Eltern zu melden. Das hat sich dank Seys Jobbelegung erledigt.

„Neue Aushilfe? Noch so eine, die sich an toten Bäumen aufgeilt?"

Ob er sich wirklich für Bücher interessiert, wage ich zu bezweifeln. Sey würde ich niemals mit dem Begriff „Leseratte" in Verbindung bringen.

"Es ist keine 'sie', sondern ein 'er' ", korrigierte ich sie.

"Echt? So'n Streber aus unserer Stufe?"

Muss ich das sagen? Nachher kommt sie mich andauernd besuchen, als Alibi um ihn stalken zu dürfen!

„Erinnerst du dich noch an den Typen vom Strand?"

Es folgte eine halbe Minute totenstille. Ich konnte quasi wahrnehmen, wie die Zahlenräder in ihrem Kopf drehten. Ihre Stimme schlug zwei, drei Stimmlagen höher ein:
„Niemals!"

"Er arbeitet in einem Bücherladen, Fiona. Schlucks oder schreib ihn ab.", riet ich ihr schroff. So langsam war mir ihre primitive Lesefeindseligkeit genug. Es dauerte erneut eine halbe Minute, bis sie antwortete: "Okay"

Vermutlich zerbrach sie sich gerade ihren Schädel, wieso so ein gutaussehendes Wesen wie Sey auf tote Pflanzen stehen konnte. Tja, it's life, meine Liebe.

Ein unwohles Gefühl machte sich in meiner Magengrube breit, ist das etwa Reue? Bin ich schuld, dass ihr vorschnell erobertes Herz nun vielleicht gebrochen ist? Ich meine, sie hat ihn erst ein einziges Mal gesehen!

„Ich leg' jetzt auf. Wir sehen uns morgen.", kurz hörte ich ihre Stimme zittern, dann ertönte das penetrante Tuten des Telefons. Fiona hat aufgelegt.

Ein mulmiges Gefühl kroch durch meine Glieder. Morgen werde ich viele Fragen beantworten müssen.

Bevor ich mein Handy wieder weglegen konnte, vibrierte es.

Vielleicht Fiona?

Komplett von meinem schuldbewussten Gefühl abgelenkt, öffnete ich die neue Nachricht:

Neue Nachricht von Unbekannt: "Gute Nacht, Angel!"

Mir schoss als erstes der Name 'Sey' in den Kopf, aber das war unmöglich.

Woher sollte er auch meine Nummer haben? Wahrscheinlich war es Fiona, sie hatte bestimmt das Handy ihres Geschwisterchens an sich gerissen, um mir mein schlechtes Gewissen auszureden.

So war es bestimmt.

Ich beschloss, nicht zu antworten.

Wer zu feige war, seine Identität preis zu geben, hat keine Antwort verdient. Außerdem, wer sagt mir, dass es sich hierbei nicht um einen blöden Streich handelt?

-

Dreimal rüttelte der lautpfeifende Wind an meinem Fenster und ließ die Rollladen bedrohlich klappern. Dreimal wurde ich dadurch aufgeweckt und war immer wieder aus ein und demselben Alptraum gerissen.

In meiner nächtlichen Phantasie wurde ich von dem unheimlichen Kunden, mit dem gebrochenen Anschein von heute Nachmittag verfolgt.

Er rannte schnell, doch ich, zumindest eine kurze Zeit lang, schneller. Egal wie sehr mein Herz pumpte oder ich meine Beine anspornen musste, um noch mehr Gas zugeben, irgendwann ging mir die Puste aus. Meinem Verfolger nicht. Ich wurde langsamer. Wenige Sekunden später war er so nah, dass ich seinen verfaulten Körpergeruch wahrnehmen konnte, als würde ich vor einer überquellenden Biomüll-Tonne stehen. Gerade wollte ich mich dazu entscheiden stehen zu bleiben, aufzugeben, aber dann erreichte mich eine laute, intensive Stimme:

"Du spürst nicht den Atem deines Gegners im Nacken. Angel, das ist Rückenwind!"

Sie schien von überall zu kommen. Ich konnte nicht sagen, ob sie von Vorne, von Links oder gar von meinem Verfolger kam. Der Ruf war allgegenwärtig und klang dringlich, ein Befehl, wie er an einen Soldaten im Krieg gestellt wird. Trotzdem schwang so viel Angst und Emotion in ihm.

An dieser Stelle erwachte ich jedes Mal. Schweißgebadet und den Satz wie ein Mantra wiederholend:

"Du spürst nicht den Atem deines Gegners im Nacken. Angel, das ist Rückenwind!"

Fahr zur Hölle, LieblingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt