Geteiltes Leid ist halbes Leid

37 5 8
                                    

Das kam spät, Sey. Viel zu spät.

Schon längst hatte sich das Gefühl von Verrat in meinem gesamten Körper eingenistet. Seine ganze Geschichte von abartigen Wesen wirkte damit keineswegs vertrauenswürdiger. Ich hatte das Exemplar mit eigenen Augen gesehen, an ihm war nichts menschliches. Und dennoch sträubte sich jeder Milimeter meines Verstandes gegen diese Vorstellung. Daran zu glauben, Sey zu glauben, würde meine gesamte Weltansicht wortwörtlich sprengen.

Seit meiner Kindheit hatten Feen, Elfen und sprechende Einhörner lediglich als ein Produkt meiner Fantsasie existiert, angeregt durch Bücher und Filme. Jedoch bezweiflte ich noch immer die Existens von Feen oder Einhörnern. Wenn dieses Wesen tatsächlich real sein sollte, wird es sich um die dunklere Partien der Fabelwesen handeln. Die finstere, bösärtige Seite. Sey erwähnte Höllenhunde, das hatte nicht nach 'Friede, Freude, Eierkuchen'geklungen.

"Alice? Langweilt Sie das internationale Vergleichen des Bruttoinlandsproduktes?", unsanft wurde ich von meinem Erdkundelehrer aus meinem Gedankengang gerissen. Überrascht, dass er überhaupt meinen Namen kannte, stammelte ich schnell: "Nein, nein. Ich hatte nur über den Grund für den hohen BIP in Norwegen äh ... gerätselt. "
Zufrieden über meine halbwegs plausible Erklärung richtete ich meinen Blick empor, lächelte vorsichtig in das sonst so strenge Gesicht. Ich zuckte zusammen, irgendetwas an seinem Erscheinungsbild kam mir bekannt vor. Meine Armhaare stellten sich auf.

Er war der Mann, der in unserem Bücherladen ein Buch bestellt hatte. Der Kunde, mit dem traurigen Gesicht und der zerschmetterten Aura. Bei der Erinnerung an das Gefühl, das ich bei unserer letzten Begegnung hatte, fröstelte ich erneut. Tief atmete ich ein, versuchte meinen Schock zu verstecken, doch längst bemerkte er meine Reatkion. Er grinste mit seinen gelblichen Zähnen. "Na sieh einer an, ", mein Lehrer nahm die Brille von seinem Nasenrücken, faltete sie ganz langsam und bedächtig, als befürchtete er, sie würde zerbrechen, "Sie haben doch nicht das gesamte Schuljahr verschlafen."
Ich nicke nur, unfähig zu sprechen. Er bedachte mich eines kurzen Blickes, seine eisblauen Augen trafen auf meine. Mein Herz drohte aus meinem Brustkorb zu brechen, so stürmisch hämmerte es. Ich schluckte, es bestand kein Zweifel. Er war es wahrlich. Immer wieder nickte er, sah mich ein drittes mal an und befeuchtete seine Lippen, ehe er sich wieder abwand und etwas an die Tafel schrieb.

Erst als sein Blick nicht mehr auf mir ruhte, flaute der Schreck ab. Noch immer kämpfte ich mit der aufsteigenden Panik. Ich versuchte meinen hektischen Atem zu verlangsamen, aus Angst irgendjemand könnte ihn hören. Meine Hände fingen an zu schwitzen, ich schob sie unter meine Oberschenkel. Den Rest der Stunde widmete ich mich der Uhr. Ich musste unbedingt hier raus. Schnell. Ich hatte keine Ahnung, warum es mir erst jetzt unbehaglich in der Nähe meines Erdkundelehrers wurde, aber tief in mir läutete ein Instinkt kräftig die Alarmglocken.

Zum ersten Mal in meiner schulischen Laufbahn war ich die erste Schülerin, die den Raum verließ. Jeder Drängler wurde von mir zur Seite gestoßen.

Vor dem Raum erwartete mich Fiona. Sie kam auf mich zu und wollte mich umarmen. "Nicht jetzt, ", ich hielt ihr meine flache Hand hin, "ich muss mich erstmal beruhigen. "

~~

"Nochmal von Vorne.", Fiona lief mit nachdenklich zusammengekniffenen Augen vor mir auf und ab. Mir ging es mittlerweile besser, keine unkrontrollierbaren Panikattacken mehr. Unbeschwert ließ ich meine Lungen voll mit der frischen Luft laufen. Der Duft von Gras und Erde war auf dem kleinen Draußengelände überall präsent.

"Sey redet irgendetwas von Höllenhunden. Du bekommst weiche Knie, wenn du deinen Lehrer siehst und - ", sie schien hörbar überfordert. Genauso wie ich. Im Gegensatz zu mir, prallten alle Informationen inerhalb kürzester Zeit in ihrem Dickschädel zusammen. Mir blieben mehrere Stunden.

"Du formulierst das so, als wäre ich unsterblich in unseren Mathelehrer verliebt-" "Der sieht aber auch verdammt gut - "
"Ich rede von Herrn Peters."
Sie zog scharf die Luft ein, machte eine angeekelte Grimasse: "Joah, es gibt definitv schönere Anblicke."

Ich bedachte sie eines strengen Blickes. Es ging mir nicht um das Aussehen von meinem Lehrer, viel mehr um diese plötzliche Angst.

"Ich kenne Herrn Peters seit zwei Jahren, wieso erst heute? Wieso kann sich das nicht alles schön geordnet in eine Reihe aufstellen und sich vielleicht noch - "

"Alice, hör auf. ", sie wurde wieder ernst, "Wie wär's, wenn wir nach der Schule direkt zu eurem Laden fahren und im System nach allen möglichen Kundendaten von Herrn Peters schauen?"

Ich zog skeptisch eine Braue hoch: "Wie wahrscheinlich ist es bitte, dass er ein Rabattheftchen bei uns führt?"

"Er ist Leher.", sie griff nach meiner Hand und half mir auf.

Während des Gesprächs hatte ich mich in den feuchten Rasen gesetzt, hatte anfangs keine Kraft mehr zu stehen. Nun war alles raus, ich fühte mich befreit. 'Geteiltes Leid ist halbes Leid', dem ich kann ich nur zustimmen.

--

Die letzten Stunden hatten Fiona und ich zusammen. Als auch diese geschafft waren, eilten wir direkt zum Ausgang. Unser Plan stand fest: Alles über Herrn Peters herausbekommen.

Wenn man vom Teufel sprach.

Fiona hatte gerade ihre Hand auf den Türgriff der Doppeltür gelegt, als Herr Peters von der anderen Seite erschien: "Hier bitte sehr, die Damen."

Er lächelte uns freundlich zu, hielt uns die Tür auf. Ich versuchte ihn nicht anzustarren, aber er trug eine markante Sonnenbrille.

Kein Sonnenschein weit und breit.Graue Wolken trübten den Himmel. Ich runzelte kurz die Stirn, ließ mir nichts anmerken. Wir bedankten uns und traten eilig heraus. Fiona warf mir einen ebenso ratlosen Blick zu. Wir gingen weiter.

Ich spürte ein kribbeln im Nacken, eine fette Spinne, die sich dort festgesaugt hatte. Sie wollte Gift verteilen, es pulsierte kriechend durch meine Adern. Entsetzt drehte ich mich um.

Der schwarze Wagen von Herrn Peters fuhr direkt an uns vorbei, ganz langsam. Er sah mir direkt in die Augen, ohne Sonnenbrille. Meine Augen brannten, als würde man sie tiefer in meinen Schädel drücken wollen. Ich gab keinen Ton von mir, bis Herr Peters die dunkelgetönte Fensterscheibe wieder hochfuhr und den Schulparkplatz verließ.

Ich schrie, gedämpt mit davor gehaltener Hand. Gepeinigt von einer unbekannten Macht. Es war, als würde mir alle Luft aus den Lungen gesaugt, mein Kopf voller panischer Gedanken, sie drängelten sich überall.

"Alli? Alles in Ordnung?", hektisch bückte Fiona sich zu mir herunter und legte besorgt eine Hand an meine Wange. Der Schmerz war weg. Ratlos sah ich in ihre samtbraunen Augen. Sie strahlten eine imense Wärme aus.

Fahr zur Hölle, LieblingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt