Kapitel 1 - Rosen

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Wissen. Ich würde so vieles gerne wissen. Aber was mich im Moment wirklich brennend interessiert bin ich. Meine letzte Erinnerung ist erst ein paar Minuten her. Ich weiß weder wie ich heiße, noch wie alt ich bin oder wie ich aussehe.

Im Moment saß ich auf einer Lichtung an einem Wald. Blutend. Und ich trug nur Lumpen. Die waren aber sehr zerrissen. Daher hatte man gerade freie Sicht auf meine Haut.

Wie das zu Stande kam? Ich bin vor ein paar Augenblicken - oder waren es Stunden? - auf einem Feld aufgewacht. Voll mit Rosen. Mit Rosensträuchern. Ich hatte noch nie so viele Dornen gesehen. Also zumindest dachte ich das. Sie haben sich tief in meine Haut gebohrt. Ich hatte sie überall in mir stecken. Ich bin aufgestanden. Da floss das Blut schon an mir herunter. Und bei jedem Schritt den ich tat wurde es mehr Blut. Es war überall und mein Körper erbebte vor Schmerz. In allen Richtungen erstreckte sich dieses grauenvolle Rot der Rosen. Daher blieb mir nichts anderes übrig als weiter zu gehen. Einfach in irgendeine Richtung. Meine Tränen brannten noch immer in den Wunden.

Ich vermutete, dass mein Anblick schrecklich war. Ich konnte meine Haarspitzen sehen. Sie waren blutrot und verklebt. Ich konnte nicht sagen welche Farbe sie normalerweise hatten.

Ich wünschte ich könnte weiter gehen. Aber meine Füße waren aufgekratzt und geschwollen. Links neben dem Baum, an den ich mich anlehnte war das Feld. Rechts daneben erstreckte sich der Wald.

Es begann zu dämmern und langsam verschwand die blutrote Sonne hinter dem blutroten Feld. Ich war wahnsinnig müde.

Also ließ ich meine Augen zufallen und hoffte, dass der morgige Tag besser werden würde.

Das Heulen eines Wolfes ließ mich wach werden. Es war kalt. Und dunkel. Am Himmel glänzten tausend Sterne und in ihrer Mitte stand groß und rund der Mond. Er warf sein Licht genau auf mich. Das Blut hatte begonnen zu trocknen. Und auch meine Füße schmerzten nur noch wenig.

Ich hievte mich hoch. Meine Beine, die am meisten geschunden waren, begannen sofort zu pochen. Doch ich musste mich bewegen. Sonst würde ich noch erfrieren. Ich war mir ziemlich sicher, dass sich außer dem Zähneklappern und Zittern auch noch eine Gänsehaut unter meiner roten, zweiten Haut verbarg.

Vorsichtig und auf Zehenspitzen bewegte ich mich in den Wald. Ich hörte Äste knacken und roch Hartz und Moos. Ohne dass ich es merkte, verlief ich mich. Ich fand nicht mehr zurück zu meiner hell erleuchteten Lichtung neben dem Feld. Also ging ich im stockdunklem Wald weiter.

Ich stolperte häufig. Und ich merkte wie frisches Blut an meinen Knien herunter rann.

Als ich erneut stolperte, blieb ich liegen. Ich schaffte es nicht mich noch einmal hoch drücken. Meine Kräfte waren nun völlig am Ende und so sank ich eiskalt in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen war es wärmer. Ein kleiner Sonnenstrahl schien warm auf mein Gesicht und ein paar Vögel sangen ihr Lied. Und obwohl ich wach war ließ ich meine Augen zu und lauschte den Klängen des Waldes. Sie waren wunderschön und entspannend.

Doch da war noch etwas. Etwas warmes. Kein Licht. Eher wie... Atem.

Schlagartig öffnete ich meine Augen und schaute direkt in zwei andere. Sie waren haselnussbraun mit grünen Sprenkeln. Die Augen waren umgeben von vielen Falten.

Ein Schrei entrang meiner Kehle. Die Besitzerin der Augen stolperte rückwärts und landete auf ihrem Hintern. Ich zog mich noch immer kraftlos, aber trotzdem panisch mit meinen Armen nach hinten, bis ich mit meinem Rücken an einen Baum prallte.

Erst jetzt traute ich mich die Frau anzusehen. Sie war alt. Ihre dicken weißen Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten. Sie war klein und zierlich. Sie trug eine braune Ballonhose, in die sie ein weißes Top gesteckt hatte. Ein rotes Tuch diente ihr als Gürtel. An dem Tuch baumelten allerlei kleine Beutel und ein Dolch.

Sie war gerade dabei einen Stock aufzuheben, um den ebenfalls ein rotes Tuch gebunden war. Sie stützte sich auf ihn und musterte mich mich schief gelegtem Kopf.

„Was machst du hier draußen, so ganz allein?" Ihre Stimme passte überhaupt nicht zu ihrem Äußerem. Sie war rau und tief. Und dennoch sanft, um mich zu beruhigen.

„Ich weiß es nicht." antwortete ich so wahrheitsgemäß wie ich nur konnte.

„Wie heißt du?"

„Ich weiß es nicht."

„Woher kommst du?"

„Ich weiß es nicht."

„Weißt du überhaupt etwas?"

„Nein."

Die Frau sah mich tadelnd und doch mitfühlend an.

„Mein Name ist Svenja. Ich gehöre zu dem einzigen Stamm in dieser Gegend. Wir sind die Kampen."

Sie musterte mich erneut und als keine Antwort aus meinem Mund kam, fuhr sie fort.

„Wenn du überleben willst, dann solltest du mir folgen."

„Ich habe keine Kraft mehr. Wie soll ich euch da folgen?"

Svenja kam auf mich zu und bedeute mir, auf ihren Rücken zu klettern. Ich bezweifelte, dass sie mich tragen konnte. Sie sah mir sehr zerbrechlich aus.

„Nun steig schon auf. Ich habe schon wesentlich schwere Leute getragen."

Sie sah mich leicht gereizt an, also kletterte ich auf ihren Rücken und hielt mich fest. Dann griff sie nach ihrem Stock und ging los. Und zwar recht zügig. Ich bezweifelte, dass sie den Stock tatsächlich brauchte.

Schon nach ein paar Minuten erreichten wir eine Siedlung aus weißen großen Zelten.

Eine Gruppe kleiner Jungs kam auf uns zu gerannt und begrüßten Svenja überschwänglich.

Danach liefen sie durch die gesamte Zeltstadt und riefen „ Mormor Svenja ist wieder da. Mormor Svenja ist wieder da."

Svenja trug mich in eins der Zelte und setzte mich ab.

Sie bedeutete mir mich auszuziehen und dann begann sie meine Wunden näher zu begutachten.

„Du warst im Rosenfeld. Nicht war?"

„Ja."

Sie runzelte ihre Stirn und brachte mich zu einem großen, in der Waagerechten geteilten Fass. Sie füllte es mich heißem Wasser und half mir hinein.

„Könnt ihr mir sagen, was Mormor bedeutet?"

„Erstmal hör auf mich zu siezen."

Ich nickte.

„Es bedeutet soviel wie Großmutter und stammt aus einer antiken Sprache. Sie nennen mich so, weil ich die Stammesälteste und somit das Oberhaupt bin."

„Wie alt bist du denn?"

„112"

Mir fiel vor Schreck die Kinnlade hinunter. Svenja sagte mir, sie würde mir neue Kleidung holen. Und während sie das tat schaute ich dabei zu, wie sich das Wasser um mich herum rotbraun färbte. Ich merkte wie mein Körper langsam wieder warm wurde und rätselte darüber, wie ich in das Feld gekommen war...


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