Kapitel 5 - Wald

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Die Nacht zog sich unendlich in die Länge. Ich tat kein Auge zu und hatte das Gefühl, dass in meinem Körper kein einziger Tropfen Flüssigkeit mehr vorhanden war.

Irgendwann riss der Wind ein riesiges Loch in eine der Zeltwände. Das Wasser klatschte mit enormem Druck gegen meine Deckenfestung und ließ mich bis auf die Knochen frieren und zittern.

Meine Fingerspitzen und Lippen wurden lila und meine Tränen gefroren zu Eisklümpchen sobald sie meine Augen verließen. Sie kullerten einfach mein Gesicht hinab und sammelten sich auf dem eisigen Boden unter mir.

Bis zu dieser Nacht hatte ich gedacht, dass ich die quälendste aller Nächte schon durchgestanden hätte. Meine erste Übernachtung im Wald, nachdem ich dem Rosenfeld entkommen war, war definitiv schon schlimm gewesen, aber diese Nacht, war schrecklicher als die niederträchtigste Folter.

Ich wusste nicht, ob ich leben oder sterben würde. Jeden Moment konnte ich erfrieren oder von einem der Blitze erwischt werden. Ich war mir sicher, dass nie zuvor ein Mensch mehr gelitten hatte, als die Bewohner des Zeltdorfes in diesen Stunden.

Aber auch diese Nacht nahm ein Ende, als der erste Sonnenstrahl gleißend hell und wunderschön rotorange über die nassen Wipfel der Tannen gekrochen kam.

Ich stürzte hinaus ins Licht und ließ meinen unterkühlten und durchnässten Körper von den Strahlen beleuchten. Sie wärmten meinen Körper nur leicht und dennoch war es das schönste Gefühl, dass ich jemals verspürt hatte. Ich war so erleichtert, dass ich überlebt hatte und spürte wie diese pikante Wärme langsam durch jede kleine Ader meines Körpers prickelte. Eine minimale Welle der Hitze rollte kreisförmig aus der Mitte meines Körpers in die Fingerspitzen.

Meine blanken Füße standen inmitten eines riesigen Matschmeeres und von meinen Haaren tropften eiskalte Wasserperlen auf den Boden.

Ich verspürte nichts als Erleichterung und Glück. Doch schon nach wenigen Sekunden zerplatzte meine Seifenblase der Seligkeit und ich durfte feststellen, dass nicht alle so gut davon gekommen waren wie ich.

Schon hinter der nächsten Ecke lag der faulige Geschmack des Verlustes auf meiner Zunge. Mona ruhte blass und voll mit Blut im Matsch. Sie war von einem Tischbein aufgespießt worden. Über ihr kauerte wimmernd das rothaarige, kleine Mädchen.

„Nein, Mona, nein. Erst Mama und jetzt du. Was soll ich denn nur Papa sagen? Lass mich nicht allein Mona, hörst du? Bitte nicht..." Ihre Stimme brach beim Sprechen immer wieder und sie wisperte den Schluss nur noch so leise, sodass ich ihn nur hören konnte, weil ich direkt neben ihr stand.

Ich legte meine Hand beruhigend auf ihre Schulter. Ihr Körper erbebte, während sie weinte, weshalb sie nicht einmal merkte, dass ich sie berührte.

Von überall her hallten die Schreie und Klagelaute von Menschen die eine geliebte Person verloren hatten. Sie vermengten sich zu einem grauenvollem Lied gefüllt mit Qualen und Pein. Es schallte unerträglich folternd in meinen Ohren wider und fügte meinem Herzen schreckliche Schmerzen zu.

Ich wandte mich von dem Rotschopf ab und wanderte, zutiefst geschockt über das Elend, durch die Gassen. Meine Augen starrten ins Leere und hätte ich noch Tränen gehabt, hätte ich sie spätestens jetzt vergossen.

Als ich das Ende des Dorfes erreicht hatte, knickten meine Beine weg und ich landete mit den Knien und vorgebeugtem Oberkörper im Schlamm. Mein Körper hatte es geschafft, noch eine Träne zusammen zu sammeln, welche nun langsam und einsam meine Wange hinunterlief. Ich wollte schreien, aber aus meiner Kehle quälte sich nur ein krächzender Laut hinaus.

Ich war unendlich froh, als Mormor mich nach einer Ewigkeit fand und von meinen Qualen erlöste. Sie schickte mich in den Wald, um die vom Wind fortgetragenen Gegenstände einzusammeln und wiederzuholen. Damit hatte sie mir und ein paar anderen Leuten den Luxus erlaubt, der freudlosen Lichtung für einen kurzen Moment zu entfliehen.

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