Kapitel 6 - Briefe

20 4 3
                                    

Früh am Morgen, wenn man es schon so nennen konnte, wachte ich auf. Es war ein wunderbar befreiendes Gefühl nicht von dem Gockel im Dorf, sondern von dem melodischen Gesang der Vögel aus dem Wald geweckt worden zu sein. Dafür aber zu einer Zeit, die wahrscheinlich nur mit wenigen Stunden vom Zeitpunkt meines Einschlafens getrennt war.

Es dämmerte gerade erst und ich konnte den wunderschönen Sonnenaufgang bewundern. Die unglaublichsten Farben zierten den Himmel und machten ihn so farbenfroh, wie die Palette eines Malers. Es waren so unglaublich viele Farbtöne, deren Namen ich nicht einmal im Entferntesten erahnen konnte. In mir herrschte nun wohlige Wärme und tiefste Zufriedenheit. Es machte mich sprachlos.

Und so saß ich an meiner erloschenen Feuerstelle und sah der Sonne mit angezogenen Beinen beim Aufstehen zu. So lange, bis sie vollständig am Himmel stand und ich die Augen abwenden musste, weil sie so gleißend hell auf mich herab schien.

Ich hievte meinen Körper hoch und starrte den Baum mir gegenüber an. Eine Augenbraue zog sich verdächtig weit nach oben und meine Augen hatte ich komplett ausgeschaltet. Wohin sie sahen beachtete ich nicht. Meine volle Aufmerksamkeit galt meinem inneren Auge, dass gerade alle möglichen Szenarien abspielte, die eintreten könnten, sollte ich das Camp heute nicht wiederfinden. Von Verhungern, über Selbstmord bis zur Zerfleischung durch einen Bären ratterte mein Hirn alles durch. Ich sah mich neben der durch den Regen erloschenen Feuerstelle erfrieren oder bei einem Erdrutsch im Gebirge sterben. Woher ich diese Idee nahm war mir allerdings schleierhaft, da ich keine Berge in der Nähe wusste.

Von einem Szenario zum nächsten wurde ich immer pessimistischer und verlor die Hoffnung. Meine Überlebenschancen waren maximal halb so groß wie die eines Schafes, das im Wolfsgehege eingesperrt war.

Mit dem letzten Funken Hoffnung, der durch die naive Stimme in meinem Kopf am Leben erhalten wurde, startete ich meinen Fußmarsch quer durch den Wald. Immer noch vor mich hin starrend.

Ich folgte kleinen Trampelpfaden oder Fußspuren, die wohl oder übel von mir stammen mussten, da niemand solche schief gestellten Füße hatte wie ich. Ich fühlte mich wie ein ferngesteuertes Etwas. Ich hatte nicht wirklich die Kontrolle über mich und ließ ja sowieso meine Füße entscheiden, wohin sie liefen. Die Stimmen in meinem Kopf führten mittlerweile einen Kleinkrieg drüber, ob ich überleben würde oder nicht. Und es sah so aus, als würden die Pessimisten gewinnen.

Ich lief weiter und weiter, wurde mit der Zeit immer langsamer. Jegliches Zeitgefühl war bei mir verloren gegangen. Nicht einmal die Stimmen konnten mir noch sagen ob ich nun schon Minuten oder Stunden unterwegs war, wobei ich allerdings stark auf letzteres tippte.

Der Wald wurde immer dichter. Es war duster und ich vermutete hinter jeder Tanne ein wildes Tier. Nicht ein kleiner Lichtstrahl konnte sich durch das dichte Nadeldach quetschen. Ich fühlte mich unwohl und bedroht. Fast so als würde ich jeden Moment sterben. Nicht einmal die Vögel konnte ich hören, während sich auf meinem Rücken Gänsehaut bildete. Mir war kalt. Ob vor Angst oder wegen der Temperatur konnte ich nicht sagen. Ich konnte mich auch nicht daran erinnern durch diesen Teil des Waldes gegangen zu sein, weshalb ich auf dem Absatz kehrt machte und regelrecht aus diesem Alptraum floh. Ich rannte so schnell ich konnte. Ich spürte wie mein Atem schneller und flacher wurde und mir der Schweiß an den Schläfen hinab rann. Die Nadeln bohrten sich beim Rennen in meine Füße und ich wusste ganz genau, dass ich hier eine Blutspur hinterließ, wie eine Schnecke ihren Schleim.

Raus aus dem Nadelwald und wieder im Mischwald, schämte ich mich wieder für mein überheztes und feiges Verhalten. Ich wanderte noch eine ganze Weile mit meinen Blutfüßen umher, bis ich an den Bach kam, an dem ich tags zuvor meine Sachen hatte fallen lassen.

Ich zitterte noch immer. Daher nahm ich eine der Decken, die noch unverändert schmutzig im Dreck lag und wickelte mich hinein. Ich nahm auf die anderen Sachen und setzte mich ans Wasser. Ich ließ meine Füße ins Wasser gleiten. Sie säuberten sich von ganz allein durch den natürlichen Fluss des Wassers.

OutsideWo Geschichten leben. Entdecke jetzt