Von Zweifel und Angst

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„Ist alles in Ordnung?", Merenwen musterte Lad mit einem besorgten Blick. Das Geräusch von Schritten hatte ihre Aufmerksamkeit erregt und so war sie vom Kamin aufgestanden und zur Tür gegangen. Noch immer trug sie das Kleid, das sie auf der Feier anhatte. Grüner Samt schmiegte sich an ihren Leib und ihr schwarzes Haar war zu einem langen Zopf geflochten. „Mh?", aus den Gedanken gerissen wandte Lad den Blick zur geöffneten Wohnzimmertür, „Nein. Alles in Ordnung." Sie war ein schlechter Lügner, was das anging.

Sogleich spürte sie die Hände an ihren Schultern und die wärmende Umarmung in die sie gezogen wurde. Wie ein Kind barg sie ihr Gesicht an Merenwens Schulter und schloss die Augen.

„Meine arme kleine Lad, vermisst du Xantha jetzt schon so sehr?", flüsterte diese und streichelte ihr über den Rücken. Sie hob eine Braue, da sie feststellte, das der Rock des Kleides noch immer auf den Boden tropfte, schlaff und schwer herabhing.

Sogleich zog sie die Elfe mit sich in ihr Zimmer und half ihr aus den nassen Gewändern heraus.

Lad ließ es über sich ergehen. Sie wusste die Fürsorge zu schätzen, doch war sie nicht in Stimmung selbst mehr zu agieren. Nur in kurzen Hosen und einem Band, das fest um die Brust gebunden war, stand sie schließlich da. Der milchige Spiegel ihr gegenüber.

Merenwen hatte ihr den Hut abgenommen und begonnen die Zöpfe zu lösen. Das braune, beinah schwarze Haar, fiel wie eine dunkle Wolke bis zu ihren Ellenbogen und umrahmte das blasse starre Gesicht. Ein Paar großer grauer Augen blickten ihr verschwommen entgegen.

Sie hatte sich nie für eine Elfe gehalten, denn weder war sie so schön wie eine, noch fühlte sie sich als solche. Das Gesicht der Rothaarigen geriet vor ihr geistiges Auge. Die ebenen Züge, die Wangenknochen, die gerade lange Nase. All das hatte sie nie gehabt und würde sie auch nie besitzen. Hätte sie keine spitzen Ohren, hätte sie immer gedacht, sie sei ein Mensch.

Ein normaler Mensch und wie oft hatte sie sich das gewünscht. Nur ein Mensch mit einem Leben und nicht dazu verdammt, die, die sie kennenlernte, im unaufhaltsamen Fluss der Zeit ertrinken zu sehen.

Ihr Blick wanderte weiter bis zu ihrem Bauch, wo der Ausläufer einer Narbe zu sehen war, der sich über die Seite bis auf ihren Rücken zog, wo die Wunde einst begonnen wurde. Rundherum waren kleinere Narben am Rücken und der Seite, doch alle waren gut verheilt. Nur diese stach durch ihre Breite hervor.

Wie in Trance hob sie die Hand und strich mit den Fingern darüber. Die Spur endete knapp unter ihrem Bauchnabel.

„Was schaust du so?", die sanfte Stimme holte sie aus ihren Gedanken.

Merenwens Lächeln streifte ihren Blick und es verschwand. Die glatten Züge. Nicht Sommersprossig oder Stupsnasig wie Xanthas.

Zaghaft ergriff Merenwen die Hand, die die Narbe nachfuhr und hob sie an, verschränkte ihre Finger mit ihren eigenen und schob sich vor das Spiegelbild.

„Jeder von uns trägt Spuren der Vergangenheit", flüsterte sie an Lads spitzes Ohr, „Sie zeigen nur, dass wir noch leben, aber sie bedeuten nicht, dass wir sie sind."

„Nur bei mir", ein schwaches Lächeln legte sich in ihre Züge, „Denn mit dieser hier begann alles, was ich jetzt bin."

„Wir lieben dich trotzdem, denn die Narbe ist nicht Lad. Sie ist nur ein Teil von dir, aber sie sagt nichts darüber aus, wie du bist."

Merenwen drückte ihre Hand und ließ sie dann los, schritt hinüber zu der eichenen Truhe vor dem Bett, hob den Deckel an und holte verschiedene Kleidungsstücke heraus.

„Ich habe eine Elfe gesehen", Lad drehte sich zu ihr um, „Vorhin am See. Sie sagte, dass meine... Familie... mich brauchen würde."

„Und was denkst du darüber?", sie drückte ihrer Freundin ein langes Leinenhemd in die Hände und warf sich selbst die weite Hose über den Arm.

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