Kapitel 1

128 14 12
                                    

Atlanta

Nichts ahnend war sie auf dem mühsamen Weg in die Stadt, die etwa eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt war, in der Hoffnung, heute eine Arbeit zu finden, wenn auch nur für einen Tag. Für etwas Essen würde der Lohn bestimmt reichen. Im Gegensatz zu den vielen reichen Leuten hatte sie nichts. Wirklich nichts. Ihr früher mal weißes Kleid – das inzwischen schon braun und schwarz vor Dreck war - wärmte sie aufgrund der vielen Löcher längst nicht mehr, zudem war es ein wenig oberhalb der Knie abgerissen. Schuhe besaß sie sowieso nicht, den Winter hatte sie immer nur irgendwie überstanden. Stark unterkühlt und halb verhungert. Doch interessierte es jemanden? Nein. So beschwerte sie sich auch nicht, alles Jammern half ja nichts.

Die Tatsache, dass sie im Feuerreich lebte, machte zumindest die restlichen Jahreszeiten sehr erträglich. Von Frühling bis Herbst war es warm genug, um in diesem ‚Sommerkleid' herum zu laufen. Im Reich nebenan, dem Eisreich nämlich, hätte sie nicht einmal den Sommer überlebt. Dort sollte es so kalt sein, dass einem die Haare einfrieren, wenn man ohne Mütze nach draußen geht. Ziemlich wahrscheinlich war dies stark übertrieben, doch man kann nie wissen. Riskieren würde sie es jedenfalls nicht, dem König dort einen Besuch abzustatten. Erlaubt wäre ihr die Einreise ohnehin nicht. Seit Jahrzehnten waren diese zwei Reiche nun verfeindet und es würde sich auch in der Zukunft nicht ändern. Warum dem so war, wusste Atlanta nicht, aber sie hatte sich auch nie besonders dafür interessiert. Warum sollte sie auch. Sie hatte andere Probleme als irgendwelche machtgierigen Herrscher, die nichts außer Krieg im Kopf hatten.

Atlanta beobachtete ihre Umgebung. Es war Herbst, dafür aber sehr warm, fast wie im Sommer. Die Wälder links und rechts von ihr erstrahlten in den schönsten Brauntönen und ein leichter, aber erfrischender Wind wehte durch ihr feuerrotes Haar. Sie genoss die Ruhe, die dieser Wald ihr bot und ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit, als sie kurz anhielt, um den Tierlauten zuzuhören. Vögel zwitscherten, Rehe liefen durch den Wald auf der Suche nach Futter oder auf der Flucht vor gefährlichen Räubern. Nachdem sie den natürlichen Geräuschen eine Weile gelauscht hatte, setzte sie sich wieder in Bewegung.

Der Weg unter ihren Füßen wurde langsam besser begehbar und das war eine große Erleichterung für sie. Wo sie herkam war es steinig und häufig rissen Steine ihr richtige Löcher in ihre nackten Zehen. Ja, Atlanta kam aus dem Wald. Kein Zuhause wollte man ihr in der Stadt bieten, einzig eine kleine, leerstehende Holzhütte bot ihr Schutz vor Kälte, Gewitter und Raubtieren. Doch selbst die Bezeichnung klein, aber fein traf nicht mehr auf ihr Heim zu.

Es war kaum größer als ein kleines Schlafzimmer in einem alten Hotel - und diese waren wirklich klein - und besaß weder ein Bett, noch einen Herd, geschweige denn irgendwelche Bequemlichkeiten, wie ein Bücherregal, Kleiderschrank oder einen Tisch. Nicht einmal eine kleine Feuerstelle zum Heizen gab es, wenn ihr kalt war, musste sie sich mit einer ausrangierten, kaputten Decke begnügen. Bei jedem noch so kleinen Schritt knarrte das Holz unter ihr und man musste beim Betreten jedes einzige Mal Angst haben, das Haus nicht mehr lebendig zu verlassen.

Aber für Atlanta war diese Hütte alles was sie besaß und sie konnte sich einen Umbau weder leisten noch ihn selbst ausführen. Sie hatte schon oft Arbeiten von Männern erledigt, nie aber Holz gehackt und transportiert. Zudem hätte sie nicht das Geld für Nägel und Hammer, ihr Budget reichte höchstens für essen, wenn überhaupt. Auch heute war ihr wieder unklar, ob sie mit leerem und knurrendem Magen ins Bett gehen musste, wobei, ein Bett hatte sie ja nicht. Also musste sie sich darüber keine Sorgen machen.

Plötzlich nahm sie unheilbringende Geräusche hinter ihr wahr. Tausende von Pferden schienen sich ihr zu nähern, und so laut wie sie waren, mussten sie bestimmt Männer mit schweren Rüstungen tragen. Starr vor Angst war es ihr unmöglich, sich vom Platz zu bewegen und auszuweichen. Noch bevor sie reagieren konnte, drückte ein stumpfer Gegenstand gegen ihre Brust und sie wurde von der Kraft zu Boden gerissen und war nicht mehr fähig, aufzustehen. Für kurze Zeit wurde ihr schwarz vor Augen und ein unglaublicher Schmerz durchfuhr ihre Brust. Furcht machte sich in ihrem Körper breit, aber auch ein unfassbarer Überlebenswille. Trotz der starken Verwundung robbte sie sich unter größter Mühe zur Seite. Pferdehufe galoppierten an ihr vorbei und niemand schien sich für Atlanta zu interessieren. Man hätte sie eiskalt zu Tode getrampelt, wäre sie nicht irgendwie noch in der Lage gewesen, den rettenden Rand zu erreichen.

Gefangen im ewigen EisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt