Gespräch zwischen Himmel und Erde

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- In einem Pariser Café -

Ich habe Paris schon immer geliebt.
Die Straßen und Cafés, die Menschen und die alten Bauwerke, genauso wie die großen Modeläden und das Bling Bling.
Es war Ende Juni, als ein alter Mann am Tisch neben mir Platz nahm und einen Espresso bestellte. Er guckte sehr lange aus dem Fenster, während ich sehr lange meine Zeitschrift las, und tat nichts, was andere Leute nicht auch getan hätten, doch er tat es auf eine vollkommen andere Weise. Er wirkte auf mich wie einer der typischen weisen, älteren Herren, von denen schon unzählige Male in Büchern geschwärmt wurde.
„Wieso hören Sie nicht auf mich anzustarren und kommen stattdessen hier hinüber und erzählen mir etwas, Mademoiselle?", fragte er mich auf Englisch, ohne den Blick zu heben.
Ich blickte verwundert über den Rand des Magazins. „Woher wissen Sie, dass ich keine Französin bin?"
„Man sieht es Ihnen an", sagte er knapp. „Also, was ist? Kommen Sie zu mir an den Tisch?"
Ich bewegte mich zögerlich in seine Richtung, schob meinen Stuhl weg, nahm auf dem neben ihm platz und wandte mich ihm zu.
„Man sieht es mir an?"
„Ja. Sie lesen englische Zeitschriften", er zwinkerte mir zu und ich musste Lachen.
„Die Art wie Sie den Kopf nach hinten werfen, wenn sie lachen... Sie erinnern mich an meine Frau Èva."
„Wirklich? Wo ist ihre Frau?"
Seine trüben Augen fanden das erste Mal die meinen und mir wurde schlagartig bewusst, dass ich soeben die falsche Frage gestellt hatte.
„Oh Gott, wie dumm von mir. Entschuldigen Sie, ich wusste nicht dass...", ich verstummte.
„Schon gut. Sie müssen sich nicht entschuldigen. Sterben gehört zum Leben dazu. Ich verstehe sowieso nicht, wieso daraus so ein Drama gemacht wird. Von Anfang an ist klar, dass Leben, das entsteht, auch wieder endet. Und wenn dann jemand stirbt, sind trotzdem alle geschockt."
Er sah wieder aus dem Fenster, hing seinen Gedanken nach und ich lehnte mich zurück.
„Haben sie denn keine Angst vor dem Tod?", fragte ich.
„Wieso sollte ich Angst haben?"
„Ich weiß nicht. Vielleicht davor, dass es wehtun könnte."
Er blieb still. Keiner sagte etwas. Nur sein tiefer Atmen und das klirren des Geschirrs vom Tisch gegenüber unterbrachen die Stille.
„Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, dass der Schritt in den Tod kein Anderer ist, als der Schritt, den man geht, wenn man einschläft. Wieso sollte es wehtun, wenn man eines Tages auf natürlichem Wege stirbt?"
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich werde Ihnen etwas erzählen.
Als ich 18 Jahre alt war, hatte ich einen Hund namens Lea. Sie ist an Krebs erkrankt und wir, also meine Eltern und ich, haben uns dazu entschlossen, dass sie nicht operiert wird. Jedenfalls kam der Tag, an dem auch ihr Leben vorbeiging.
Lea war immer meine beste Freundin. Sie lag nachts neben meinem Bett, sie hat mich begleitet auf meinen Erkundungstouren durch die Wälder. Sie zu verlieren war schmerzhaft und ich hatte große Angst davor, das können Sie mir glauben. Aber sie hat mir letztlich gezeigt, dass der Tod nichts ist, wovor man fliehen kann und auch nichts, was man fürchten muss.
In der Nacht als sie starb, saßen wir draußen vor dem Haus. Nur sie, ich und der Mond, den sie stundenlang angeheult hat und ich habe es ihr nachgetan. Ein Junge und ein Hund heulen zusammen den Mond an, ein schönes Bild war das.
Irgendwann rang Lea nach Luft, heulte ein letztes Mal auf, sah mich an und schloss langsam die Augen.
Sie ist zur Ruhe gekommen. Sie ist seelisch und friedlich dahingeschwebt und wenn man an diese Seelentheorie glaubt, dann hat sich in diesem Moment ihre Seele befreit und die kranken Überreste ihres Körpers zurückgelassen.
Lea ist in dieser Nacht nicht von uns gegangen. Sie ist frei geworden. Und ist Freiheit nicht etwas auf das man sich freuen kann?"
Wie gebannt starrte ich den Mann an und tupfte mir mit einer schnellen Bewegung die Träne, die sich aus meinem Auge geschlichen hatte, weg.
Ich war sprachlos.
Noch nie in meinem 23 jährigen Leben hatte ich so über den Tod nachgedacht.
„Denken Sie, es gibt einen Platz da draußen, in dem die Seelen sind?", fragte ich ihn leise.
„Oh, nicht nur einen, Mademoiselle."
„Wie alt sind Sie?"
„Dreiundneunzig. Und ich kann es kaum erwarten die Freiheit mit meiner Èva zu erkunden."





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Ich  wurde inspiriert durch ein Gespräch mit einem sehr guten, alten Freund von mir namens Lu.

Danke für all die Erleuchtungen, die ich mit dir erleben darf und für die Gespräche.

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