5-Sorgen unter Deck

890 54 4
                                    

Jack war schon ein wenig vor uns gegangen, und stand an der Haupttreppe und blickte auf die mit Holzverkleidungen und Gold verzierte Uhr. Plötzlich wurde mir klar, dass das hier in zwei Tagen auf dem Meeresgrund liegen würde.

„Du Paul, welches Datum haben wir heute?“

„Es ist der 13. April.“ sagte er und schaute mich vielsagend an.

Mich überkam Panik! In etwa 24 Stunden würden wir mit einem riesigen Eisberg kollidieren und zwei Stunden später würde das hier auf dem Grund des Atlantiks liegen! Es gab für uns kein entkommen! Die Boote reichten für knapp die Hälfte der Passagiere! Plötzlich griff Paul nach meiner Hand.

„Prinzessin, du zitterst total! Ist dir nicht gut?“

„Ach, es ist einfach wegen morgen. Du… du weißt ja…“ eine Träne lief über mein Gesicht. Paul wischte sie vorsichtig mit der Hand weg.

„Ich weiß, und ich mache mir auch große Sorgen! Aber wir müssen abwarten. Und wir dürfen uns auch nicht zu komisch benehmen! Immerhin gilt das Schiff als Unsinkbar, da würden wir nur auffallen, wenn wir uns jetzt sorgen machen würden.“ Auch Pauls Augen glänzten, als würde gleich eine Träne kommen. Ich schluckte. Ich hatte einen ziemlichen Kloß im Hals.

„Ok.“

„Lucy, Paul, wo bleibt ihr?“

Wir schauten uns um. Rose und Jack waren schon an der anderen Seite des Flurs.

„Wir kommen!“ rief ich, nahm mein Kleid hoch und lief über den Gang.

Wir bogen um die Ecke und hatten eine schäbige, kleine Metalltreppe vor uns. Kein schöner Teppich, keine Verzierungen an den Wänden. Nur Metall, Nieten und einfache, grelle Lampen. Mir wurde durch die Eisenwände wieder bewusst, wie schwer dieses Schiff wohl sein musste.

Nachdem wir die Treppe herunter gegangen waren, kamen wir an einen Gang mit vielen Kabinen. Etwa alle 3 Meter gab es eine weitere Kabinentür. Ich wusste, hinter jeder schliefen 4 bis 6 Menschen, hinter jeder warteten 4 bis 6 Menschen, die morgen Abend einen weiteren Platz in den Booten wollten. Und es waren so viele Kabinen. Mir wurde langsam bewusst, wie viel 2200 Passagiere doch sein konnte. 1500 von ihnen würden sterben. 700 von ihnen überleben. Ich hoffte, neben uns würden noch 696 weitere Menschen überleben. Rose würde auf jeden Fall überleben. Paul und ich hatten auch gute Chancen. Aber Jack? Er war jung, nett und gutmütig. Er hatte ein so schreckliches Schicksal und konnte trotzdem noch alle zum Lachen bringen. Es war für mich schwer zu begreifen, dass er mit hoher Sicherheit sterben würde.

Jack öffnete eine große Eisentür. Plötzlich war der Gang, aus dem wir kamen mit lauter Dudelsackmusik erfüllt. In dem Raum waren jede Menge Menschen. Alle tanzten im Irischen Tanzstil oder einfach so darauf los. Sie hatten ein dickes Lächeln im Gesicht, wirkten fröhlich und ausgelassen.

Morgen Abend jedoch würden sie schreien vor Panik. Und übermorgen… wahrscheinlich hier in diesem Schiff am Meeresgrund liegen.

Plötzlich wurde mir schlecht. Diese Gedanken daran, dass das kleine Mädchen da vorne, das gerade von dem schönen neuen Haus in Amerika erzählte, das Haus nie sehen wird, und die schwangere Frau ihr Kind nie bekommen wird waren einfach zu viel für mich. Paul bemerkte, wie meine Knie anfingen stark zu Zittern und besorgte schnell einen Stuhl. Ich setzte mich und atmete tief durch.

Die Gedanken in meinem Kopf fuhren Achterbahn. Schreckliche Szenarien bildeten sich vor meinen Augen.

Paul kniete sich vor mich und legte seine Hände in meinen Schoß.

„Prinzessin, alles Ok bei dir? Sollen wir wieder auf unser Zimmer?“

„Ach Paul“ flüsterte ich, „Es ist alles einfach so schrecklich! Die ganzen Menschen hier werden morgen… Ich kann nicht mehr! Ich hab solche Angst! Und der arme Jack erst! Er hat von uns allen die schlechtesten Chancen!“

Ich brach in Tränen aus. Nervlich war ich völlig am Ende. Vor ein paar Tagen war ich noch so glücklich! Ich hatte eine gesunde Tochter zur Welt gebracht, und Paul hatte mir einen Heiratsantrag gemacht! Ich habe ihn geheiratet! Und jetzt, zwei Tage später… saß völlig aufgelöst in einem verrauchten Raum voller Menschen, die keine 24 Stunden mehr zu leben hatten!

Inzwischen hatten auch Jack und Rose, die auf die Tanzfläche verschwunden waren, bemerkt, dass es mir nicht gut ging. Sie kamen zu uns und hockten sich neben mich.

„Lucy, was ist passiert?“fragte Rose. „Komm, wir bringen dich in deine Kabine.“

Jack und Paul halfen mir hoch und stützten mich ein wenig, da ich noch immer sehr wackelig auf den Knien war. Rose öffnete die Tür nach draußen. Von dem Rückweg bekam ich recht wenig mit, da ich wieder mal in Gedanken bei dem morgigen Unglück war.

Wie konnte ich Paul, Rose, Jack und mich sichern? Paul meinte zwar, wir dürften das Unglück nicht verhindern, aber ich würde mein bestes dafür tun, Jack und Rose zu retten. Koste es was es wolle. Die zwei waren so glücklich zusammen, und mit Jack würde Rose der drohenden Hochzeit mit Carl entgehen. Ich musste einfach irgendwas unternehmen.

Als ich gerade einen Entschluss gefasst hatte, blieben wir plötzlich stehen. Ich schaute, warum und bemerkte ein wenig erschrocken, dass wir bereits vor unserem Zimmer waren.

Rose schloss unsere Tür auf und Jack und Paul setzten mich vorsichtig auf das Bett. „Danke“ sagte ich mit schwacher Stimme. Die drei setzten sich auf die Couch, während ich mein Nachthemd anzog. Paul versuchte offensichtlich, die Stimmung aufzuheitern, was ihm bei Jack und Rose auch gelang. Natürlich. Sie wussten ja schließlich nicht, was morgen auf sie zukommen würde.

Als ich fertig angezogen war, ging es mir schon ein wenig besser. Jack und Rose wollten wieder nach unten, doch kurz bevor sie aus der Tür raus waren, hielt ich sie auf.

„Wartet noch kurz!“

„Was ist denn Lucy?“ fragte Rose.

„Ich… Wir möchten euch morgen Abend an Deck treffen. Am Bug, wo wir uns das erste mal getroffen haben.“

„Wieso?“ fragte Jack.

„Das… das kann ich euch nicht sagen. Aber zieht euch bitte warm an! Es könnte kühl werden morgen Abend. Wir fahren zurzeit sehr weit nördlich.“ sagte ich.

Rose und Jack sahen mich fragend an, sagten aber der Verabredung zu.

„Wann wollen wir uns dann treffen?“ fragte Jack.

Ich überlegte kurz, wann genau die Kollision war.

„Sagen wir mal, um halb zwölf am Bug.“

„Alles klar. Bis morgen.“

„Bis morgen. Gute Nacht.“

Die zwei gingen raus und Paul setzte sich neben mich.

„Ich denke, du hast richtig gehandelt, Prinzessin.“ Sagte er. Danach erhob er sich und ging ins Bad. Ich wiederum kroch unter meine Decke und war schnell in einen Unruhigen Schlaf verfallen. 

Zwei Pärchen auf der Titanic (Rubinrot-Titanic FF, in ÜberarbeitungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt