Kapitel 1: Allein

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„Hast du Woody dabei?"

Die schon ziemlich ramponierte Sheriff-Puppe mit dem leidvollen Blick wurde mir stolz vom Rücksitz aus entgegen gestreckt. Daneben das sommersprossige, breitgrinsende Gesicht meines Sohnes.
„Sehr gut! Lass' ihn dir nicht wieder von Sam klauen, hast du gehört? Möchte ihn nicht noch einmal aus einer Geiselnahme befreien müssen", meinte ich mit einem Zwinkern und Carl verdrehte seufzend die Augen, stopfte die Puppe zurück in seinen prallgefüllten Rucksack und gluckste auf, als er sich abschnallte.
„Aber Dad, du bist doch Cop! Das ist...
„.. mein Job, jaja!", vervollständigte ich seinen Satz und strubbelte durch sein dunkles Haar.

Ich stieg aus, öffnete die Rücksitztür und Carl kletterte, immer noch lachend, aus dem Auto.
Maggie stand bereits an der Haustür und winkte uns zu, während ich mich vor meinem Sohn hinhockte und seinen Kragen richtete.
„Du benimmst dich und tust alles, was Tante Maggie dir sagt. Sie wird mich sonst anrufen und dann war es das mit deinen Ferien bei Sam, okay?"
„Oh man, ich bin kein Baby mehr", beschwerte er sich und schob trotzig seine Unterlippe vor.

Mein Baby war er immer noch...

„Na Großer, hast du Hunger? Sam wartet schon mit dem Frühstück auf dich... es gibt Pancakes!"
Maggie war zu uns gekommen, lächelte Carl mit einem bezaubernden Lächeln entgegen und dieser war sofort Feuer und Flamme, weitete seine Augen und wollte direkt losrennen.
„Moment noch!", hielt ich ihn auf und umfasste sein Gesicht.
„Kein Abschiedskuss?"
„Dad!" Die Empörung war ihm sowohl anzusehen, als auch anzuhören.

Ich lachte, wusste, dass es ihn ärgerte und er sich bereits für zu alt für so ein Baby-Kram hielt, aber ich schaffte es immerhin, ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken, bevor er mit schnellen Schritten die Auffahrt hinaufrannte.
Kopfschüttelnd und mit einem Lachen auf den Lippen sah Maggie ihm hinterher, bevor sie sich mir zuwendete.

Mein Blick haftete noch an dem freudestrahlenden Jungen, der von einem blonden Gleichaltrigen an der Tür freudig empfangen wurde.
„Lori ist gestern Abend schon geflogen?"

Während ich die kleine Reisetasche vom Rücksitz holte, um sie Maggie in die Hand zu drücken, nickte ich und gab ein „Mhm" von mir.
„Ja, sie ist gut in London angekommen. War immerhin 8 Stunden unterwegs."
Meine Schwägerin nickte verstehend und legte dann den Kopf schief, bevor sie sich eine Hand über die Augen hielt, um die Sonne etwas von ihren Augen abzuschirmen.
„Du hast also ganze zwei Wochen das Haus nur für dich?", fragte sie lächelnd und ich zuckte mit den Schultern, schloss die Autotür und lehnte mich daran.

„Allzu viel werde ich davon nicht haben. Ich arbeite immerhin, habe keine Ferien... oder Urlaub.", grinste ich und sie stieß mich auffordernd mit dem Ellbogen an.
„Eine Auszeit kannst du auch mal gebrauchen."
„Aber mir gerade nicht leisten..."
„Mhh... dann genieße deine kurze Junggesellenzeit.", zwinkerte Maggie und ich lachte, nickte und verabschiedete mich von ihr, bevor ich wieder in meinen Wagen einstieg und die Auffahrt hinunter fuhr.

So wirklich bewusst, dass ich tatsächlich allein war, wurde es mir erst, als ich das so stille Haus betrat, indem bis gestern noch Trubel geherrscht hatte. Jetzt lagen nur noch klägliche Überreste davon überall herum – Legosteine, Bauklötze und andere gefährliche Stolperfallen, die ich aber, inzwischen an so etwas gewöhnt, einfach umging.

Mein Frühstück bestand aus einer Tasse Kaffee und einer Schale Müsli, die ich an der Küchenzeile zu mir nahm und dem Radiomoderator bei seinen eher nicht so lustigen Sprüchen über das kränkelnde Gesundheitssystem Amerikas zuhörte.
Ich schaute aus dem Fenster und hing meinen Gedanken nach, dachte an gestern Abend und den eher kühlen Abschied von Lori, als ich sie zum Flughafen brachte.

Kühl war eigentlich genau das Wort, was uns in letzter Zeit recht gut beschrieb.
Aber das brachte das Leben doch mit sich, oder?
Immerhin waren wir schon einige Jahre verheiratet, hatten einen achtjährigen Sohn und das ach so verliebte Pärchen waren wir schon lange nicht mehr.
Es war einfach passiert, über all die Jahre... und ich redete mir ein, dass so etwas jedes Ehepaar einmal durchmachte.
Eine Flaute gab es überall, einen kleinen Tiefpunkt.
Sie waren doch nur dafür da, um überwunden zu werden, um zu beweisen, dass man das alles bestehen konnte, wenn man zusammenhielt.
Ja, wenn...

Irgendwann wurde jedes Märchen, egal wie schön es angefangen hatte, bitter...

Ich schaute auf den Ehering, der mir wie eine Ermahnung entgegenblitzte und plötzlich fühlte sich die Leere, die Stille, die ich nicht mehr kannte, unerträglich an.
Weswegen ich auch beinahe aus dem Haus flüchtete, um schnell zur Arbeit zu kommen.

„Heute Nachmittag, ins Paddy's? Das Diner um die Ecke?", war das erste was ich von Shane hörte, als wir Streife fuhren und ich schaute kurz fragend zu ihm.
„Was gibt es da denn?", fragte ich, lehnte meinen Ellbogen ans Fenster und strich mir durchs Haar.
„Wenn du da wieder irgendeine Frau abschleppen willst, dann-..."
„Nein, nein!", lachte er und ließ die Sirene kurz zwei Mal aufheulen, als zwei Schulkinder einfach bei Rot über die Straße rannten.
Erschrocken erkannten sie uns, bevor Shane durch den Lautsprecher zu ihnen sprach und meinte, sie sollten doch lieber warten, bis die Ampel auf Grün umstieg. Manche Autofahrer seien schließlich nicht so nett und würden so schnell anhalten.
Sie nickten hastig, gingen dann rasch weiter und auffordernd sah ich meinen Kumpel an.
„Also...?"
„Will dir einfach nur jemanden vorstellen, zusammen was trinken, essen."
„Jemanden?"

Was sollte das denn werden?!
Wen zum Teufel wollte er mir vorstellen. Wenn das wieder einer seiner Scherze war, dann würde ich ihm dieses Mal wohl die Bierflasche über den Kopf ziehen müssen.

„Warum machst du es so spannend, verdammt nochmal?"
„Lass' dich einfach mal überraschen. Ein netter Typ, seit Jahren mal wieder getroffen. Ich glaube, ihr würdet euch verstehen."
„Ein alter Freund von dir? Deswegen machst du so ein Geheimnis draus? Gott, Shane...", seufzte ich entnervt und rutschte weiter in den Sitz hinein.
Ich war zu alt für so einen Scheiß...
„Tu' nicht so, Grimes! Du kannst die Ablenkung heute Abend ganz gut gebrauchen, oder nicht? Lori ist nicht da, die dir in den Ohren liegt, ja pünktlich zu Hause zu sein und Carl ist bei Maggie. Also... willst du allein zuhause rumhängen?"

Na irgendwie hatte er ja Recht... es war ungewohnt, das Haus zu betreten und keiner war da. Dran gewöhnen müsste ich mich so oder so, immerhin würden es zwei Wochen sein, aber gegen einen netten Abend und die Ablenkung hatte ich eigentlich nichts einzuwenden.
Zumal das in letzter Zeit öfter mal zu kurz gekommen war. Lori war manchmal recht überfordert mit Carl und hoffte wohl darauf, dass ich das ändern konnte. Ich versuchte sie so gut es ging zu entlasten, wenn ich zu Hause war – aber selbst das war manchmal einfach nicht genug.
Wie so vieles nicht...

Also sagte ich zu und wie besprochen, trafen wir uns gegen sechs Uhr im Paddy's.
Zu dieser Zeit war es oft voll, denn viele genehmigten sich hier ihr Feierabend-Bierchen und die gemütliche Atmosphäre, einem irischen Pub nicht unähnlich, trug ihr Übriges dazu bei. Hier fühlte man sich einfach wohl und es gab Zeiten, wo ich mit Shane sehr oft hier gewesen war.
Und auch das hatte sich wohl geändert.

Es war einer der wenigen Pubs, in denen das Rauchen noch erlaubt war und die bläulichen Dunstwolken waberten durch den großen Raum.
Ich erkannte Shane, ohne ihn wirklich zu sehen. Denn sein galliges Lachen war etwas, was direkt meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Ich folgte eben diesem, bis ich ihn an einem Tisch am Fenster erkannte. Er nippte an einem Bier und unterhielt sich mit jemandem, der wohl sein Kumpel war.

Ein Mann mit dunklem, etwas längerem Haar, einem eindringlichen Blick, der mich direkt abscannte, saß bei ihm und ich fragte mich, ob ich ihn vielleicht schon mal irgendwo gesehen hatte... nein, Shane hatte ihn mir tatsächlich noch nie vorgestellt.

Ein alter Kumpel also...

„Oh, Rick, da bist du ja!"
Shane erhob sich, drückte mich kurz an sich und klopfte mir auf die Schulter, als ich wieder diesen Blick spürte.

Prüfend, durchdringend.

„Also, Rick... das ist Daryl... Daryl... Rick.", stellte uns Shane vor und ich reichte dem noch fremden Mann meine Hand, die er kurz, aber fest nahm.
„Hey.", war sein kurzer Gruß, seine Stimme tief und seine Mimik versteinert.
„Freut mich.", erwiderte ich, grinste kurz und setzte mich ihm gegenüber.

„Ich habe dir schon ein Bier bestellt, sollte jeden Moment kommen...", meinte Shane und ich nickte nur, sah zu diesem Daryl und betrachtete ihn nun meinerseits, als er sich eine Zigarette aus seiner Schachtel holte.
Er steckte sie in seinen Mundwinkel, kramte nach einem Feuerzeug in seiner Lederjacke.
Ich versuchte, sein Alter zu schätzen. Anfang dreißig vielleicht? Jünger als ich, jünger als Shane...
Er wirkte wie das Mitglied einer Rock-Band, warum auch immer... etwas verschroben, geheimnisvoll und düster.

Doch das, was mir besonders auffiel, waren diese eindringlichen Augen...

„Woher kennt ihr euch?", wollte ich schließlich neugierig wissen und erkannte, wie Shane und Daryl sich kurz nachdenklich anschauten. Es dauerte einen Moment, bis ich meine Antwort bekam...

Kill Me If You CanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt