ღ Kapitel 4 - Brise ღ

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Genüsslich sog Magdalena den Duft ihres Gartens ein. Er war eine eigene Melodie, ein Gemisch aus vielen diversen Noten. Als sie es endlich geschafft hatte, ihre lästige Schwester abzuschütteln, hatte sie sich sofort auf den Weg in das bunte Paradies gemacht. Nachdenklich strich sie über die Mauer hinter ihr. Der kalte, raue Stein rieb angenehm an ihrer zarten Hand. Sie wandte den Blick auf das graue Ungetüm und begann leise zu kichern.

Oft schon hatte sie nachts die kleinen Vorsprünge der Wand benutzen müssen, um sich wieder in ihrem Zimmer einfinden zu können. Der Hinterausgang nämlich, befand sich direkt unter dem Zimmer der Eltern und das Mädchen hatte nicht riskieren wollen, diese zu wecken, denn dann wäre sie nicht so ungeschoren davongekommen. Selbstverständlich war ein solcher Aufstieg gefährlich und anstrengend, doch die Abenteurerin hatte diese Herausforderung stets gemeistert, ohne am Ende niedergeschlagen und keuchend auf der Fensterbank liegen zu müssen. Lachend lief sie durch die Oase mitten in der grauen Stadt. Eine frische Frühlingsbrise strich durch ihr Haar, aber anstatt sich über die aufgewirbelten Locken zu ärgern, atmete Magdalena die halbwegs frische Luft ein. Dabei war die Luftverschmutzung in ihrer Umgebung nicht einmal als die schlimmste dieser Zeit zu bezeichnen. Dachte man nur an das weit entfernte London, dessen undurchdringlicher Nebel fast schon als Berühmtheit galt. Man sagte, einige Passanten wären schon in der kläglichen, braunen Brühe namens Themse verschwunden, weil sie durch den Smog das todbringende Wasser nicht hatten kommen sehen. Man erzählte jedenfalls, dass es so auf der Insel geschehen wäre. Die Londoner Peculiars, so nannte man den grauen Nebel auch.

Soweit die junge Frau wusste, war das Wort Eigenheiten eine himmlische Untertreibung für diese Naturkatastrophe. Argwöhnisch schüttelte sie den Kopf, sodass ihre Frisur am Ende nur noch einem zerrupften Vogelnest glich. Um sich abzulenken, widmete das Mädchen sich wieder ihrem Garten. Stolz besah sie die bunte Farbpracht, die sie ihr Eigen nennen konnte. Vorbei an den Tulpen und Narzissen rannte Magdalena, bis sie im Zentrum des Gartens angekommen war.

Ein kreisrundes Blumenbeet umrahmte eine einzige Pflanze. Das Zentrum bildete eine einsame, rote Rose. Noch versteckte sie ihre volle Pracht, doch die Gärtnerin war sich sicher, dass sich die kleine Knospe noch öffnen würde. Ein wenig Zeit, Sonne und Liebe würde sie noch brauchen, bis sie bereit war. Die schöne Frau hatte ihren Gärtner beauftragt, sich primär um das Wohlergehen dieser zarten Blume zu sorgen und beim ersten Anzeichen, dass sie bald erblühen würde, seiner Herrin Bericht zu erstatten. Vier Wochen würde die Blumenliebende noch geduldig warten müssen, hatte der junge Mann kopfschüttelnd vermutet.

Liebevoll strich das Fräulein über die wertvolle Knospe, bevor sie sich abrupt umwandte und aus dem Garten lief. Das hatte sie für diesen Tag nicht geplant. Freudvoll lief sie durch die Gassen, bestaunte die modernen Automobile und rief dem einen oder anderen Bekannten einen hastigen Gruß zu. Es war ein wunderschöner Morgen, das bezeugten auch die zahlreichen Spaziergänger, die gemächlich über die gepflasterten Straßen schlenderten.

Magdalena hingegen bewegte sich in keinster Weise gemächlich. Lachend rannte sie an den kopfschüttelnden oder auch entrüsteten Passanten vorbei, die das warme Licht der Sonne auf ihren Gesichtern genossen. Wieder einmal fiel dem Mädchen unübersehbar auf, wie verschieden sie doch alle waren. Nachdenklich bestaunte sie den hageren Zeitungsverkäufer, der an der nächsten Häuserecke aufdringlich, aber mit einem lächelnden Ausdruck, versuchte, den Vorbeigehenden das neueste Blatt zu verkaufen. Dann fiel ihr Blick auf die eher korpulente Dame, die mit rauschenden Röcken wie eine zu beleibte Königin an den Menschenmassen vorbeistolzierte. Die junge Frau befand, dass diese Individualität mehr geschätzt werden sollte. Sie selbst konnte sich wiederum mit keinem der beiden identifizieren, denn niemand konnte das. Jeder war eine eigenständige Persönlichkeit, die frei zu entscheiden hatte, fand die schöne Blume. Auch deshalb widerstrebte es ihr, einen alten, versauerten Großvater zu heiraten, der wiederum auch ein eigenes Wunder war. Außerdem müsste er, um Großvater zu sein, schon eine Frau gehabt haben.

Die Liebe der RoseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt