03. Unerlöst

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Bevor ich nach dem Joggen endgültig nach Hause gehe, besuche ich nochmal unseren Teich, einen Ort der Stille. Es ist wunderschön hier. Ruhig beobachte ich die sanften kleinen Wellen. Atme ein. Atme aus. Runder Bauch. Flacher Bauch. Wobei, was soll daran flach sein? Egal! Entspann dich, Lara! Finde endlich deinen Frieden. Wie lange willst du denn noch diesen Kampf durchstehen?

Das Joggen hat mir jedenfalls gut getan. Froh darüber, es getan zu haben, klingel ich an unserer Haustür, die nicht allzu weit vom Teich entfernt ist. Wir wohnen in der Birkenallee fünf. Vögel zwitschern, als Mama aufmacht. Wir begrüßen und umarmen uns. Jeden Tag. Nur Samstag und Sonntag nicht. "Du, Mama... Ich treffe mich am Samstag mit diesem Kelvin aus meiner Klasse", berichte ich ihr. "Was? Wann? Wieso?" "13 Uhr. Wir müssen ein Referat vorbereiten." "Achso... Ja, okay. Nagut." "Ja." Ich geh rein und zieh mir die Schuhe aus. Als ich ins Zimmer komme, sitzt Nina bereits am Esstisch und isst brav. Sie ist meine zehnjährige kleine Schwester. Unsere zwei farbenfrohen Wellensittiche sitzen im Käfig und knuddeln miteinander. Sie sind immer fröhlich. Zumindest scheint es mir so. "Ich will nicht viel... Mir ist heute nicht so gut..." "Warum nicht? Ist dir schlecht? Bist du krank?", sorgt sich Mama. Im Hirn schon. "Ich weiß nicht..." "Komm, iss diesen Teller auf und dann erlöse ich dich, ja?" Wäre schön, wenn du mich von meinem Körper erlösen könntest. Zu schön, um wahr zu sein. "Reicht auch die Hälfte?" "Nein, alles!" Ärgerlich setze ich mich zu Nina und Mama an den Tisch. Papa ist schon längst nicht mehr da. Er ist nicht tot, aber für uns ist er gestorben. "Guten Appetit", versucht Nina höflich zu sein. "Danke...", brumme ich. Die Stimmung ist angespannt. Vor mir steht ein Teller, der mit Herausforderung bis zum Rand gefüllt ist. Andere freuen sich, wenn sie was zu essen bekommen, aber mir schmeckt das überhaupt nicht! "Lara, hör bitte auf mit deinem Bein zu herum zu wackeln", bittet Mama mich. "Wovon redest du?", frage ich sie. Sei schlau, stell dich dumm. "Du weißt genau, wovon ich rede!" Nina nickt stumm und blickt nur auf ihr Essen, stochert darin rum und atmet leise. Ihr scheint der Appetit vergangen zu sein. "Wisst ihr, wenn ihr nichts essen wollt, werdet doch gleich alle magersüchtig!" Mama steht auf und stampft wütend in ihr Zimmer. Nina und ich sind nun allein. "Warum machst du das eigentlich? Siehst du nicht, wie unglücklich du uns damit machst und wie du unsere Familie zerreißt?", ruft Nina entblößt und sauer. Ich sitze einfach nur schweigsam da, stehe ein paar Sekunden später langsam auf und gehe die Treppe hoch...

Langsam schließe ich meine Zimmertür zu und lege mich auf mein Bett. Mein Bauch knurrt... Zum Glück hat das niemand gehört. Ich habe kaum was gegessen und das Vesper, was mir meine Mutter für die Schule eingepackt hat, habe ich die Toilette runtergespült. Es war ein Brot, das mit Butter beschmiert und mit Käse belegt war. Sie hat es doch auch nur aus Liebe zu mir gemacht... Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen... Meine Augen beginnen zu tränen. Was bin ich nur für ein Mensch?

Ich hole meine Gitarre aus dem Schrank und schreibe wieder mal ein neues Lied...

"Schau mal, wer ich bin...
Vielleicht nett. Vielleicht schlau. Aber ganz bestimmt nicht dünn!
Man sieht mich an und meint,
mir geht es gut und ich habe nicht einen einzigen Feind...
Glaubst du tatsächlich, dass es so ist?
Oder ist da etwas, das mein Leben auffrisst?
Denn falls du es für eine Lüge hältst,
bist du nicht falsch, mein größter Feind bin ich mir selbst!
Wie ein Ungeheuer
spucke ich auf mich selbst Feuer!
Wie kann man sich nur täuschen
von lügnerischen Worten und Geräuschen...
Ich habe kein wirkliches Ziel in Sicht...
Deswegen bitte ich dich... Erlöse mich..."

Den Tod vor Augen (Magersucht)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt