18. Stillgelegt

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Oha. Meine ganze Klasse ist zur Besucherzeit gekommen! Sie läuft zu mir, umarmt mich liebevoll und schenkt mir zuallererst einen Blumenstrauß! "Danke. Das ist echt total lieb", sage ich ihnen erfreut in meiner Schüchternheit. Sie lachen, so wie immer. Diesmal aber genieße ich ihr Lachen und rege mich darüber nicht auf. Es ist einfach nur schön, dass sie alle da sind. Ein Mädchen hat mir ein Buch mitgebracht und Kelvin, der auch da ist, einen... Schokoriegel. Wie schön.

Wir gehen hinaus in den Park zum kleinen Spielplatz, bei dem es beispielsweise eine Schaukel gibt. Julia ist mitgekommen, um auf uns aufzupassen. Einige setzen sich hinein, andere stehen draußen, schauen uns beim Schaukeln zu oder gehen wo anders hin. Ich und ein anderes Mädchen bringen der ganzen Sache ein wenig Schwung und schubsen alle anderen an. Immer höher. Immer weiter. Julia fällt das natürlich sofort auf, sie ruft uns von der Bank aus, auf der sie sitzt, zu: "Lara! Du weißt es!" Meine Laune ist sofort verdorben. Sie wirft mir einen bösen Blick zu, den ich ihr auch nur erwidern kann. Sie will nicht, dass ich mich zuviel bewege... Gereizt gehe ich langsam vom Anschubsplatz runter zu den anderen. Ein Junge ersetzt meinen Platz. Alle reden fröhlich miteinander weiter, haben Spaß... Ich lasse meine Füße einfach draußen hängen und blicke ihnen nach.

Sie gehen vor und zurück.

Vor und zurück.

Wie gerne nur würde ich mich einfach abstoßen, meine unsichtbaren Flügel spreizen und davonfliegen. Weit weg. In die wahre Welt. Die Welt der Wahrheit...

Sie betrügt mich, nutzt mich aus! Und trotzdem muss ich ständig an sie denken. Irgendwie passt sie zu mir perfekt - wie ein Schlüssel ins Schlüsselloch. Wir sind beste Freundinnen, wenn nicht noch mehr... Warum muss sie nun gehen? Denkt sie, ich habe noch jemand anderes? Dabei habe ich doch niemand anderes... Oder etwa doch? Und falls ja, wen? Wer kann mich so perfekt erfüllen wie sie? Ich bin immer noch auf der Suche nach einem tieferen Sinn in dieser Oberflächlichkeit... Wo ist er?

Sie lachen. Sie lachen. Und ich? Ich könnte heulen... Warum? Weil ich eben nicht lachen kann! Wie soll ich ihre Nähe schätzen, wenn ich nicht mal selbst gerne bei mir bin? Ich will weg von mir. Immer dachte ich, ich würde nach mir suchen... Dabei bin ich bloß vor mir geflohen. Es gibt nur einen Weg, dem ganzen ein Ende zu bereiten. Ein Weg und ein Hindernis. Ich bin im Überwachungsraum. Sie würden alles sehen. Sport. Fluchtversuche. Selbstmordversuche. Alles. Ich bin verloren - oder besser gesagt gerettet? Ach, ich weiß auch nicht mehr...

Diese ganzen Gedanken bringen mich noch um! Immer noch kämpfen sie wie Krieger in mir. Sie finden wieder genügend Nahrung. Das bedeutet, sie haben mehr Energie. Mehr Energie bedeutet höherer Einsatz. Sie sind stärker geworden. Und sie sind nicht faul, sie kämpfen! Sie haben sich mit den Ärzten angelegt, die wiederum für mein Leben kämpfen. Heißt das, meine Gedanken und ich kämpfen gegen das Leben? Ist das der Sinn und das Ziel von mir, was eigentlich gar keinen Sinn ergibt?

Den Tod vor Augen (Magersucht)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt