Oliver: Fehlalarm

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Ich ging die Straßen entlang und beobachtete das heitere Treiben der Schneeflocken, die auf die Erde fielen und dort mit der Zeit eine dicke Schneedecke hinterließen. Es war verdammt kalt und ich ärgerte mich darüber, dass ich keine Mütze angezogen hatte. Aber nachdem ich eine gute Stunde vor dem Spiegel verbracht hatte um meine Haare in die perfekte Position zu bringen, wollte ich es nicht riskieren, dass sie durch die dicke, selbst gestrickte Wollmütze meiner Oma wieder platt an meinen Kopf gedrückt wurden.

Denn ich war auf dem Weg zu Avery. Sie war allein Zuhause. Und sie hatte gesagt, sie hätte eine Überaschung für mich. Allein die Worte 'allein' und 'Überraschung' in Verbindung brachten mein Herz so schnell zum schlagen, dass ich dachte, ich würde an zu viel Sauerstoff krippieren. Falls das überhaupt ging. Aber momentan war ich mir dessen ziemlich sicher. Denn was sich so in meinem Kopf abspielte, war nicht unbedingt jugendfrei. Scheiße! War das jetzt echt...? Jetzt schon? Also keine Frage, von mir aus gerne. Aber ich dachte, Mädchen waren da ein bisschen anders? Wir waren gerade mal 2 Monate zusammen. Als ich das Joris erzählt habe, hatte er nur gegrinst und mich einen 'abgefuckten Glückspilz' genannt. Und dann war Sofie gekommen und hatte ihn geschimpft, dass er nicht so viele Schimpfwörter benutzen sollte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht gedacht, dass Joris sich jemals von jemandem etwas gefallen lies, aber seitdem Sofie das gesagt hatte, war Joris fromm wie ein Papst. Er trug seit kurzem jeden Tag ein frisches Hemd und sprach, als wäre er aus einer Königsfamilie des 17. Jahrhunderts ausgebrochen. Ich fand es schade. Früher war Joris immer der entspannter von uns beiden gewesen, aber seit er mit Sofie zusammen war, benahm er sich wirklich seltsam. Aber sie war sicher nicht nur schlecht für ihn. Er war wirklich glücklich, wenn er mit ihr zusammen war. Sagte er zumindest...

Und da Joris nicht mehr den Part des Arschlochs übernahm, tat ich das jetzt. Ich fluchte in letzer Zeit wirklich viel zu viel. Und auch mein Selbstbewusstsein war um einiges gewachsen. Da Joris nur noch Augen für Sofie hatte, war ich inzwischen ziemlich gut mit Luca befreundet. Er hatte uns unsere Racheaktion verziehen. Zum Glück. Denn eigentlich war er echt nett. Gar nicht hochnäsig, wie ich bisher immer dachte. Das war einfach alles nur gespielt. Wegen uns war er nicht mehr besonders beliebt in unserer Schule. Aber es sah so aus, als würde es ihn gar nicht wirklich stören. Vielleicht war auch einfach die Last von ihm abgefallen, immer alles richtig machen zu müssen.

Inzwischen war ich an Averys Haustür angekommen. Ich klingelte und kurz darauf hörte ich jemanden die Treppe runterrennen. Mein armes Herz pumpte, als würde ich grade die letzten Meter eines Matrathons laufen und meine Knie fühlten sich an wie Butter.

Alles gut, Oliver! Stay cool!

Die Tür ging auf und direkt vor mir stand Avery. Von oben bis unten voll mit Mehl. Ein wenig Teig hing in ihrem Haaren und gelber Dotter klebte ihr im Gesicht. Sie sah aus, als würde sich gleich weinen.
Unglaublich... Ein Dejavu! Vor genau zwei Monaten stand ich schon mal hier. Und wie damals stand Avery nicht so vor mir, wie ich mir das gewünscht hätte. Aber dieses Mal beschloss ich, gleich zu lachen, statt erstmal nach dem Grund zu fragen. Das war eben Avery. Und so liebte ich sie.

"Es tut mir so leid! Ich wollte dir einen Kuchen backen, weil du doch vor zwei Tagen Geburtstag hattest! Aber... Es hat einfach nicht fun..." fing sie an und die ersten Tränen rannen ihre Backen hinunter.

"Pschhhht. Alles gut. War das die Überraschung?" fragte ich immer noch grinsend.

Sie nickte und sah zu Boden. "Naja, ein Teil davon. Ich habe noch ein Geschenk für dich." Sie zog einen kleinen Karton hinter ihrem Rücken hervor.

Ich könnte sagen, dass ich nicht enttäuscht war, aber das wäre gelogen. Ich hatte mich tagelang darauf vorbereitet. Hatte Tipps auf YouTube angeschaut, was ich alles tun sollte. Hatte Joris gefragt. Und nun stellte es sich heraus, dass das alles nur ein Fehlalarm gewesen war.

Fast grob riss ich ihr das Päckchen aus der Hand und nuschelte ein "Danke".

"Willst du's nicht auspacken?" fragte mich Avery, als ich keine Anstalten machte, es zu öffnen.

"Später." antwortete ich kurz angebunden.

"Ookay?" Avery sah mich fragend an.

"Hast du noch was anderes zu essen, außer halbfertigen Teig?" Ich versuchte einen Scherz zu machen, aber er misslang mir gänzlich.

"Hey, was ist los?" Sie hatte es gemerkt... Wie immer. Dieses Mädchen war eine verdammte Hellseherin!

"Nix, hab Hunger."

Etwas ungläubig sah sie mich an, ließ mich aber dann doch endlich rein.

"Ähm. Kannst du ähh... das P-päckchen nicht jetzt schon aufmachen?" fragte sie mich plötzlich, als wir Richtung Küche gingen. Ich sah sie fragend an und erst jetzt merkte ich, dass ihr Gesicht die Farbe einer Tomate hatte und ihre Pupillen auf die Größe einer Walnuss geweitet waren.

"Kay." Vorsichtig machte ich das Papier weg. Darunter befand sich eine Schachtel und als ich sie öffnete, traute ich meinen Augen nicht. Mein Puls raste blitzartig in die Höhe und ich hatte das Gefühl, ich würde umkippen. Darin lag ein Schlüssel. Aber das war nicht das Wichtigste. Daneben lag ein Kondom. Und ein Slip!?

"Was genau soll der Slip da drin?" Ich grinse und hoffte, sie merkte nicht, wie nah ich gerade einem Herzinfarkt war.

"Naja, das ist meiner... Der, den ich heute eigentlich anhaben sollte." Avery wurde noch röter und ich konnte sie schwer schlucken hören. Aus meinem Gesicht wich sämtliche Farbe und ich musste mich schwer zusammenreißen, um nicht einen epileptischen Anfall zu bekommen.

Shit! Ohkay. Und jetzt? Ich sah Avery sprachlos an. Was mache ich denn jetzt?! So eine verfickte scheiße, auf so etwas war ich definitiv nicht vorbereitet gewesen! Langsam wurde die Stille zwischen und wirklich unangenehm und ich merkte, wie Avery immer unsicherer wurde.

Mein Kopf war leer. Nichts brauchbares war mehr drin zu finden. Außer -

Küss sie einfach.

Joris Rat. Ich bedankte mich im Stillen bei ihm dafür.

Und dann ging ich ganz langsam auf Avery zu, nahm ihr Kinn in meine Hand und schob ihren Kopf nach oben, bis unsere Augen sich tragen. Ich sah Scham in ihren Augen. Und ich wünschte mir, ihn auslöschen zu können. Jedes unangenehme Gefühl aus ihrem Körper zu verbannen, damit sie immer glücklich war. Vorsichtig küsste ich sie. Ganz kurz. Und nochmal. Langsam begann mein Hirn wieder zu arbeiten und ich grinste. "Für welchen Raum ist denn der Schlüssel?"

Just kiss herWo Geschichten leben. Entdecke jetzt