Lebendig

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Sie wartet auf dich, dort wo sie immer wartet, zu der Uhrzeit, zu der sie immer wartet, seit eurem ersten Treffen. Sie steht auf von der Bank und betritt den Kreis aus Helligkeit, den die Laterne auf den Gehsteig wirft. In dem weißen Licht sieht sie noch bleicher aus als sonst und die zerzausten Locken wirken noch röter.

Sie sieht auf die Uhr, denn du bist wie immer zu spät. Als du näher kommst, lächelt sie und kommt auf dich zu. „Da bist du ja endlich!", sagt sie und greift nach deiner Hand. „Was hast du heute Verrücktes geplant?" Sie lacht. „Du siehst mal wieder viel zu brav und ordentlich aus, um Dummheiten zu machen" Sie greift in deine Haare und zieht das Haargummi heraus. Deine Haare lösen sich aus dem Pferdeschwanz und fallen dir offen über die Schultern. „Besser", sagt sie, „hast du an deinen Bikini gedacht?" Du nickst „Ja, aber was machen wir..." Du hast keine Möglichkeit, den Satz zu beenden, denn sie läuft schon los und zieht dich an der Hand mit.

Sie bleibt vor dem Zaun des Freibads stehen und grinst dich an. „Kommst du hier rüber?" Du siehst sie fassungslos an. „Du willst mich jetzt nicht ernsthaft dazu bringen, ins Freibad einzubrechen?" Sie zuckt die Schultern. „Wenn du nicht willst, dann bleib halt hier." Und schon klettert sie den Zaun hoch und lässt sich auf der anderen Seite ins Gras fallen. Sie streift sich im Laufen das Kleid über den Kopf und springt mit Anlauf ins Schwimmbecken. Du stehst da und bist sprachlos. Dass sie dich einfach so dort hat stehenlassen! Du weißt nicht, was du tun sollst, denn einerseits willst du das auch machen, willst du auch über den Zaun klettern und in das kalte Wasser eintauchen. Doch andererseits willst du nicht von irgendjemandem erwischt werden, willst nicht deine Eltern enttäuschen. Du siehst auf und siehst sie auf dem Sprungturm stehen, mit ausgebreiteten Armen. Irgendwie sieht sie aus wie ein Engel mit der weißen Haut und den durch die Nässe dunklen Haaren. In diesem Moment verliert die Vernunft ihren Kampf in deinem Kopf.

Auch du ziehst dich nun den Zaun hinauf und springst auf der anderen Seite zu Boden. Du gehst zu der Stelle, an der ihr Kleid im Gras liegt und wirfst deine Hose und dein T-Shirt dazu. Als du am Beckenrand angekommen bist, hältst du erst nur einen Fuß ins Wasser und lässt dich dann hinein gleiten. Du tauchst unter und bist überrascht. Überrascht, dass sogar so etwas wir euer örtliches Schwimmbad so schön sein können. Unter Wasser wirkt es viel heller, und durch das Mondlicht auch irgendwie magisch. Das Wasser wird verwirbelt und es entstehen große, weißlich schillernde Luftblasen, als sie einige Meter von dir hineinspringt. Sie schwimmt auf dich zu, ihr Haar fächert sich hinter ihr im Wasser auf, jetzt ist sie kein Engel mehr, sondern eine Nixe. Sie lächelt dich an und du musst aus irgendeinem Grund lachen, wodurch Luftblase vor dir aufsteigen. Dieser Anblick bringt sie zum Lachen und ihr macht so lange Luftblasen, bis euch die Luft ausgeht. Als ihr auftaucht, lächelt sich dich an und flüstert: „Ich hätte nicht gedacht, dass du noch kommst." Sie zieht sich zu dir heran und küsst dich. Ihre Lippen schmecken wie immer nach Salz und Erdbeeren und Abenteuer und dieses Mal auch nach Chlor.

Plötzlich lässt sie von dir ab und zischt dich an: „Weg hier!" Du siehst dich überrascht um und entdeckst, dass das Licht am Eingang eingeschaltet wurde. Du ziehst dich hinter ihr aus dem Becken, rennst über die Wiese, nimmst deine Kleidung und kletterst neben ihr dem Zaun hoch. In deinem Rücken hörst du noch wütendes Geschrei, aber du verstehst es nicht, dein Herz pocht zu laut. Auf der anderen Seite des Zauns sprintet ihr los, diesmal du vorweg. Du nimmst nichts mehr war, nur das Keuchen deines Atems, den harten Asphalt unter deinen Füßen, das Hämmern deiner Schritte auf der Straße und ihre Schritte direkt hinter dir.

Du wirst nicht langsamer, bis ihr eure Laterne erreicht. Völlig außer Atem bleibst du stehen. Ihr seht euch an und fangt an zu lachen, so laut, dass es bestimmt jemand hört. Aber es ist dir egal, dass euch jemand sehen könnte, zwei Mädchen in Bikini und mit nassen Haaren, die Kleidung unter dem Arm. Es ist dir egal, denn zum ersten Mal in deinem Leben fühlst du dich wirklich lebendig.

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