Leben ist einfach mit geschlossenen Augen

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Ich liege auf dem Rücken im Gras und halte die Augen geschlossen. Die Sonnenstrahlen wärmen mein Gesicht und trotz meiner kurzen Hose und des dünnen T-Shirts schwitze ich. Plötzlich wird das warme Rot hinter meinen Augenlidern durch Schwarz ersetzt. Ich öffne die Augen und muss ob der Helligkeit blinzeln. Über mich gebeugt steht Alex und grinst auf mich hinunter. Mit dem blauen Tanktop und seinen wie immer verwuschelten schwarzen Haaren sieht er unverschämt gut aus. Mein Herz setzt bei seinem Anblick einen Schlag aus und beginnt dann in doppeltem Tempo weiter zu klopfen. Hastig setze ich mich auf, lächele verlegen und versuch mein Shirt glatt zu streichen.

„Hey!", sage ich und meine Stimme ist um eine Oktave nach oben gerutscht. Ich räuspere mich und Alex lacht leise. Gott, sein Lachen ist so verdammt sexy.

Er lässt sich neben mich auf den Boden fallen und streckt seine langen Beine vor sich aus. Er lehnt sich auf seine Ellbogen und fragt: „Was ist bei dir in letzter Zeit so los gewesen? Wir haben schon ewig nicht mehr geredet."

„Viel los in der Schule und so. Kennst du ja."

Alex nickt und wir verfallen in Schweigen. Ich knibbele an meinem sowieso schon blätternden Nagellack herum und tue so, als würde ich ihn nicht beobachten. Was ich natürlich tue, durch eine meiner Locken hindurch. Er wirkt gedankenverloren, die Augen weit in die Ferne gerichtet, seine Haare in der Stirn und der geschwungene Mund ganz entspannt. Wie immer bewundere ich die Linie von Alex' Kiefer und die langen dünnen Finger, die jetzt gerade den Rhythmus einer unhörbaren Musik auf das Gras trommeln.

Alex richtet sich auf und ich zucke zusammen, denn ich fühle mich dabei ertappt, ihn zu beobachten, auch wenn ich es vermutlich gar nicht bin.

„Kann ich dich was fragen und du versprichst, nicht zu lachen?", fragt er.

„Klar", murmele ich.

„Kannst du...", er zögert und wirkt fast verlegen, „könntest du mir auch mal die Nägel lackieren?"

Überrascht sehe ich auf. „Meinst du das ernst?"

Alex nickt zögerlich. Ich muss lächeln.

„Klar."

„Jetzt?"

Nun bin ich an der Reihe mit lachen.

„Okay", antworte ich, „dann muss ich den Nagellack aber erst mal holen. Was für eine Farbe willst du denn?"

Alex zuckt mit den Schultern. „Das blau, das du da auf den Fingernägeln hast", sagt er dann und es klingt fast wie eine Frage.

„Ich bin gleich wieder da!", sage ich, rappele mich auf, zwänge mich ein paar Schritte weiter durch die Hecke und jogge über den Rasen in unserem Garten und die Treppen in unserem Haus hinauf. In meinem Zimmer angelangt schnappe ich mir das Fläschchen mit dem blauen Nagellack, das immer noch auf meinem Schreibtisch steht, und laufe zurück auf die wilde Wiese hinter unseren Gärten. Und den ganzen Weg muss ich wie bescheuert grinsen, obwohl mir jetzt noch wärmer ist als vorher.

Während ich weg war, war offensichtlich auch Alex kurz zuhause, denn neben ihm im Gras liegt sein heißgeliebter Walkman. Ich setze mich ihm gegenüber und überschlage die Beine, genau wie er, zu einem Schneidersitz. Unaufgefordert hält er mir den einen Kopfhörer hin. In dem Walkman steckt offensichtlich seine alte Beatles-Kassette, denn in meinem Ohr finden sich die vertrauten Klänge von Your Mother Should Know wieder.

Alex legt seine rechte Hand auf meinem Unterschenkel ab und ich spüre, wie meine Ohren rot werden, doch ich beschließe es zu ignorieren. Ich beuge mich etwas tiefer und beginne, seine Nägel zu lackieren. Sie sind wie dafür gemacht, groß und recht flach wie sie sind. Ich muss mich konzentrieren, denn ich habe noch nie jemand anderem die Fingernägel lackiert und möchte mir vor Alex nicht die Blamage geben, überzumalen.

Als ich mit beiden Händen fertig bin, hebe ich den Kopf und bin überrascht davon, dass er sich auch vorgebeugt haben muss. Unsere Gesichter sind sich so nah, dass ich die winzigen Sommersprossen auf seiner Nase erkennen kann und fast im Blau seiner Augen ertrinke. Unwillkürlich halte ich den Atem an. Und dann, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht zu haben, lehne ich mich noch ein winziges Stückchen weiter nach vorne und drücke meine Lippen auf seine.

Sie sind ein bisschen rau und schmecken nach nach Freiheit und ich kann seine Überraschung auf ihnen spüren. Nur einen Augenblick später schaltet mein Hirn sich wieder ein und ich ziehe mich zurück, doch Alex legt seine Hand an meine Wange und erwidert den Kuss ganz sanft. Als unsere Lippen sich nur wenige Herzschläge später voneinander lösen, ist sein Gesicht flammend rot.

„Das hatte ich nicht erwartet", flüstert Alex.

„Ich auch nicht", gebe ich zu. Er lacht wieder sein leises Lachen und lässt sich nach hinten ins Gras fallen. Ich lege mich neben ihn und schaue in den Himmel. Alex nimmt meine Hand und verschlingt seine Finger mit meinen. Living is easy with eyes closed singt John Lennon in meinem Ohr und ich schließe meine Augen.

„Ich mag dich sehr, Aaron", wispert Alex neben mir; seine Stimme ist gerade so wahrnehmbar.

Ich muss lächeln. Ja, John Lennon hat Recht, leben ist einfach mit geschlossenen Augen.

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